Jürgen Baldiga (*1959 in Essen, †1993 in Berlin) war nicht nur Fotograf, ein Chronist seiner Zeit – der Westberliner Schwulen- und Tuntenszene während der AIDS-Krise in den 80er Jahren. Er war auch Dichter, Aktivist und »Koch / Barkeeper / Geliebter / Prostituierte / Gelegenheitsarbeiter«[1], wie er sich selbst in einem Tagebucheintrag beschrieb. Sein amateurhafter Griff zur Spiegelreflexkamera rührte weniger von der Ambition her, ein aufstrebender Fotokünstler zu werden, sondern war 1985, ein Jahr nach seiner HIV-Diagnose, seinem Entschluss geschuldet, acht Jahre lang das darzustellen, was bald nicht mehr sein würde. In Baldigas Worten: »Seit 1989 vollends im (Krankheits-)Bilde oder besser: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«[2]
In der Halle für Kunst wird Jürgen Baldigas künstlerische, soziale und aktivistische Lebenspraxis in Zusammenarbeit mit dem Nachlassverwalter und Künstler Aron Neubert in einer retrospektiven Überblicksschau seines Werkes aufgearbeitet, das der Kurator Frank Wagner einmal als »radikal realistisch, ohne den Anspruch zu haben, authentisch zu sein«[3], beschrieb. Zum ersten Mal werden hier noch nie präsentierte skulpturale Arbeiten sowie Auszüge aus Baldigas insgesamt 40 Tagebüchern, die er von den späten 1970er Jahren bis zu seinem Tode führte, zusammen mit Schwarz-Weiß-Fotografien gezeigt. Die Fotografien in der Ausstellung zeichnen Baldigas Nischensoziotope nach – allen voran das der »SchwuZ-Tunten«.[4] Sie stammen teils aus zwei mit rotem/blauem Plüschfell beklebten Mappen, in denen Baldiga Fotografien in billigen Plastikfolien zu dialektischen Paaren, ja, zu seiner Vision einer Familie, arrangierte.
Viele dieser Arbeiten Baldigas konservieren die brennende Lust am Leben, während sie zugleich den Verlust einer »Kultur der Möglichkeiten« dokumentierten – in einer Zeit der menschenunwürdigen AIDS-Politik die sich gegen jene am Rande der Gesellschaft richtete: vor allem queere Menschen, Suchtkranke, Sex- und Gastarbeiter:innen oder Außenseiter:innen, die in der damaligen Bundesrepublik als Risiko für die »heterosexuelle Volksgesundheit« wahrgenommen wurden. Man denke hier auch an Douglas Crimps »Liste« von zurückgeforderten, verlorenen Räumen, Handlungen und Idealen einer queeren Lebenswelt, die während der AIDS-Krise mit dem Tribut des Todes einhergingen und als abjekt verächtlich gemacht wurden.[5]
Baldiga theatralisierte viele seiner Bilder zu einer vermeintlichen Ode an polyamouröse Plots, an die Erhabenheit jugendlicher Schönheit, an antike Päderastie-Fantasien sowie an die schiere Potenz, die sich fast als Parodie seiner katholischen Prägung herausschälte. Er inszenierte Porträtierte zu Selbstdarsteller:innen in der Art der barocken Märtyrermalerei eines Caravaggios: zu griechischen Engels- und Gottesgestalten, jedoch ohne dass an ihnen je heroische Patina kleben blieb. Lieber entblößte er schamlos deren bröckelnde Fassaden, ihren regelrechten Muskelschwund. Die inszenierten, oft überzeichneten Posen in Schwarz- Weiß, und behelfsmäßig konstruierten Objekte in »Camp«-Ästhetik wurden für Baldiga zu Instrumenten und Träger:innen des Makabren, der Ironie, die mit Stereotypen jener brachen, die gesellschaftlich aus imaginierten Zukünften verbannt waren. Das konnte ein Aidskranke:r, aber auch ein Wohnungslose:r oder die »Tunte« mit Perrücke, Fummel und Modeschmuck auf der Straße sein, für die Camp als »schlechter Geschmack« und »privater Code« zur Überlebensstrategie wurde.[6]
In dieser Vision Baldigas von Gemeinschaft ging es nicht mehr um »Sonderlinge« der Unterwelt wie Tom Kuppinger feststellte, denn »mit würdevoller Gleichgültigkeit und Selbstverständlichkeit hat diese hermetische Familienwelt den Konflikt ums Anderssein längst hinter sich gelassen.«[7] Statt sich am Verlust festzukrallen, trotzen Baldigas enteignete, aber vor Sexualutopie strotzende Egos in seinen Werken bis heute dem Schwinden ihrer Gemeinschaft, die, während sie verloren gegangen ist, zugleich erschaffen wurde – indem Baldiga sie als »sterbliche« Wesen darstellte und damit erst unsterblich machte: »Wie die Hölle, so die Erde. Wo die Hölle, da die Erde.«
– Jürgen Baldiga, Tagebucheintrag, ohne Datum.
Die Ausstellung enthält Material, das aufgrund der Darstellung von Nacktheit und sexuellen Handlungen für Besucher:innen ab 18 Jahren geeignet ist. Bei Fragen steht das Team der Halle für Kunst gerne zur Verfügung.
In Zusammenarbeit mit der Halle für Kunst wird am Welt-AIDS-Tag im Filmclub der polnischen Versager:innen eine Filmvorführung von Jasco Viefhues Dokumentarfilm Rettet das Feuer (2019) in Anwesenheit des Regisseurs und Aron Neubert stattfinden.
Der Filmclub der polnischen Versager:innen wurde 2021 von Elisa R. Linn, Tiphanie Kim Mall und Flora Klein im Club der polnischen Versager e.V. gegründet. Sie zeigen dort an einzelnen Abenden ausgewählte Experimentalfilme und betreiben eine Bar. Der Club der polnischen Versager wurde in den 1990ern von in Berlin lebenden polnischen Künstler:innen gegründet und gehört neben dem Schokoladen zu einem der letzten aktivistischen Wohn-, Arbeits- und Kulturstätten in Berlin-Mitte.
Kuratiert von Elisa R. Linn in Zusammenarbeit mit Aron Neubert
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[1] Jürgen Baldiga, Tagebucheintrag vom 2.8.1992.
[2] Jürgen Baldiga, Tagebucheintrag vom 16.7.1992.
[3] Vgl. Videobotschaft von Jasco Viefhues, https://www.sissymag.de/videobotschaft-von-jasco-viefhues-rettet-das-feuer/.
[4] Das SchwuZ wurde 1977 gegründet und ist Deutschlands ältester Queer Club sowie größte Kulturinstitution im queeren Bereich, https://www.schwuz.de/.
[5] Vgl. José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, New York 2009 und Douglas Crimp, »Mourning and Militancy«, in: October, 51, 1989, S. 11.
[6] Vgl. Chris Pilpot: »Diva Worship as a Queer Poetics of Waste in D. Gilson’s Brit Lit«, in: Bruce E Drushel/Brian M Peters, Sontag and the Camp Aesthetic, Advancing New Perspectives, Lanham, Maryland 2017, S. 64.
[7] Tom Kuppinger, »AIDS macht 90 bis 95% meines Lebens aus«, in: Hakert/Neubert, Jürgen Baldiga – Fotografien, Ausst.-Kat.