Es ist eine stattliche Sammlung von rund 5.000 Fotografien und über 70.000 Negativen – zusammen fast 2.000 Kilogramm Material –, die Sergiy Lebedynskyy, der Leiter des Museum of Kharkiv School of Photography (MOKSOP), einige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges nach Wolfsburg gebracht hat. Die Arbeiten gehören zu der sogenannten Charkiwer Schule der Fotografie, einer Bewegung, die seit Ende der 1960er-Jahre künstlerisch experimentiert und eine Art Antihaltung zur offiziellen Fotografie sowjetischer Prägung darstellt. Die Werke sollten eigentlich in dem von Lebedynskyy neugegründeten MOKSOP in Charkiw gezeigt werden – eigentlich, aber dann begann im Februar 2022 der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands. In sonst leer gebliebenen Transportwagen der humanitären Hilfe haben die Fotografien ihren Weg hinaus aus dem Kriegsgebiet gefunden und landeten schließlich in Lebedynskyys Keller in Wolfsburg, wo er seit einigen Jahren wohnt und arbeitet. Das Kunstmuseum Wolfsburg hat dieses Konvolut vorübergehend in seinem Depot fachgerecht eingelagert. Nun wird ein Teil dieser bedeutenden Sammlung vom 13. Oktober 2023 bis 7. Januar 2024 in der Ausstellung Ukrainian Dreamers. Charkiwer Schule der Fotografie gezeigt.
Die Charkiwer Schule der Fotografie hat bereits mehrere Umbrüche erlebt, welche die ukrainische Gesellschaft erschütterten: von der »schwammigen« Stabilität der Breschnew-Ära über die rasche Befreiung durch die Perestroika, den anschließenden Zusammenbruch der UdSSR und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit des Landes, die Wirtschaftskrise und die Turbulenzen der 1990er-Jahre, zwei Revolutionen und den neoimperialistischen Angriffskrieg unter Putin. All diese Perioden forderten viele ukrainische Künstler:innen auf unterschiedliche Weise heraus und machten die Schule zu einem fließenden Netzwerk, das letztlich auf die Veränderungen in seinem Umfeld reagierte.
In politische und gesellschaftliche Schwebezustände versetzt, durchlebten die Künstler:innen diese mit dem Drang zum fotografischen Experimentieren. Da sie während der Sowjetzeit von allen professionellen Institutionen und dem Markt isoliert waren und auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine kaum Zugang dazu erhielten, betätigten sie sich meist in ihrer Freizeit künstlerisch, etwa in Amateur-Fotoclubs. Die Künstler:innen flüchteten sich entweder in die Konstruktion subjektiver Welten oder äußerten sich mutig zu gesellschaftlichen und politischen Themen.
Wenn es darum geht, die Geschichte des Nonkonformismus in der ukrainischen Kunst zu untersuchen, ist Charkiw, das als ein wichtiges Bildungs- und Industriezentrum gilt, vor allem durch jene Fotoschule vertreten. Einer der Gründe für die wenigen nonkonformistischen Künstler:innen war die besonders strenge Kontrolle, die der örtliche Zweig des staatlichen Künstler:innenverbandes und die Strafbehörden über die Künstler:innengemeinde ausübten. Doch mehrere kleine Gruppen von Fotograf:innen, insgesamt lassen sich heute um die 40 Künstler:innen aus vier Generationen dazuzählen, haben sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgewagt. Sie schufen Werke, die mit den sowjetischen Vorgaben wenig zu tun hatten. So ist neben dem Experimentellen, wie etwa Überlagerungen von Dias oder durch Posterisation erreichte »Fehlfarben«, auch zwanglos-natürliche Nacktheit zu finden – in der Sowjetzeit schnell als Pornografie verurteilt.
Von der ersten Generation um Boris Mikhailov und Evgeniy Pavlov über die Gruppen SOSka und Shilo zu aktuellen Arbeiten von Bella Logachova und dem Tandem Andriy Rachinskiy und Daniil Revkovskiy gibt die Ausstellung, die in Kooperation mit dem Museum of the Kharkiv School of Photography entwickelt wurde, Einblicke in die künstlerischen Ansätze des Phänomens der Charkiwer Schule der Fotografie.
Museum of Kharkiv School of Photography
Das MOKSOP (Museum of Kharkiv School of Photography) ist das erste ukrainische Museum für zeitgenössische Fotografie. Es wurde 2018 von den Fotografen Sergiy Lebedynskyy und Vladyslav Krasnoshchok, sowie den Kunsthistorikerinnen Oleksandra Osadcha und Nadiia Bernard-Kovalchuk gegründet. Der Name des Museums ist von der gleichnamigen Bewegung der ukrainischen Kunstgeschichte inspiriert – der Charkiwer Schule der Fotografie. Diese erlangte vor allem durch den Namen von Boris Mikhailov, einem der einflussreichsten zeitgenössischen ukrainischen Künstler:innen, internationale Anerkennung.
Das MOKSOP hat einen bedeutenden Kernbestand der ukrainischen Fotografie seit den 1960er-Jahren zusammengetragen: Heute umfasst die Sammlung des Museums mehr als 5.000 Abzüge und rund 70.000 Filmnegative klassischer Dokumentar- und Kunstprojekte sowie die Werke junger Autor:innen. Mit dem Ziel, das fotografische Erbe des Landes bekanntzumachen, führt die Kurator:innengruppe des MOKSOP ein nomadisches Ausstellungsprogramm durch und organisiert individuelle und kollektive Projekte mit Partnereinrichtungen in der Ukraine sowie im Ausland.
Künstler*innen der Ausstellung
Sergiy Bratkov, Herman Driukov, Viktor und Sergiy Kochetov, Bella Logachova, Oleg Maliovany, Boris Mikhailov, Evgeniy Pavlov, Roman Pyatkovka, Daniil Revkovskiy und Andriy Rachinskiy, Jury Rupin, Shilo Group (Vladyslav Krasnoshchok und Sergiy Lebedynskyy), SOSka Group (Mykola Ridnyi, Serhiy Popov und Hanna Kriventsova), Oleksandr Suprun.
Konzept und Kurator
Sergiy Lebedynskyy
Kuratorische Assistenz
Carla Wiggering, Oleksandra Osadcha