In ihrer bislang umfangreichsten Einzelausstellung Dolorem Ipsum widmet sich die georgische Künstlerin Anna K.E. dem choreografierten Körper und menschlichen Zuständen, die von Instabilität, Entfremdung und Wandel in architektonischen Landschaften geprägt sind. Mit ihrer Präsentation hinterfragt K.E. die Wahrnehmung und Konzeption von Bewegungsflüssen im Raum, indem sie auf humorvolle Weise die architektonischen Leitsysteme, Strukturen und Hindernisse sowie deren imaginierte Fassaden in den Blick nimmt und soziale Normen in der Konstruktion und Performance neuer Pfade durchbricht. Im Zentrum ihrer künstlerischen Praxis steht die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper, mit Ballett, postkommunistischen Zuständen und Bewegung in moderner Architektur inmitten historisch bedeutsamer Designelemente. Sie erforscht persönliche und kollektive Körpererfahrungen von Zeit, Tanz und Schmerz und verbindet diese Themen in eindrucksvollen Installationen zum physischen und digitalen Selbst. Die Künstlerin ist als klassische Balletttänzerin ausgebildet und reflektiert mit ihrem nuancierten Verständnis des eigenen Körpers die menschliche Mobilität in der Umgebung und löst dabei eine Trajektorie neuer Bewegungsbahnen aus, die durch tänzerische und performative Gesten, Verrenkungen und fließende Arrangements alternative räumliche Strukturen schafft.
Mit Dolorem Ipsum entwickelt K.E. für die beiden Ausstellungshallen der Kestner Gesellschaft neue raumgreifende Installationen, in denen sie die zentralen Anliegen ihrer kinetischen und körperorientierten Werke in den Bereichen Video, Skulptur, Performance, Zeichnung und Collage weiterführt. Das Forum Silence in my Pocket beherbergt einen zentralen Fliesenplatz mit fließendem Springbrunnen. Neben brutalistischen Bushaltestellen und ominösen Klangkuppeln verweilen verkrümmte und mit Marzipan überzogene Hundeskulpturen. In den Arkaden zeigt K.E. auf einem neu entworfenem Holzregal ältere Werke und persönliche Fundstücke, die wie auf der Werkbank eines Atelierarchivs ihre künstlerische Praxis mit Bezügen zu Überresten, Tanzchoreographien, zur menschlichen Physis und Baugestaltung widerspiegeln. Zeitgleich steht die Kuppelhalle im Dialog mit dem Proberaum Dolorem Ipsum, den poetischen Ballettstangen und der monolithischen Videoinstallation. Der Raum ist aufgeladen mit tiefsinnigen Gedanken über Feminismus, Ballett und der Obsession mit dem digitalen Selbstbild. Auf poetische Weise reflektiert K.E. Bewegungsflüsse und untersucht zugleich räumliche Konstellationen von physischen und psychologischen Körpergrenzen, die soziale Erfahrungen von Macht, Gewalt und Freiheit in architektonischen Umgebungen inszenieren und verankern.
Der enigmatische und zugleich vertraute Ausstellungstitel Dolorem Ipsum bezieht sich auf die Tradition des Platzhaltertextes »Lorem ipsum …«, dessen Worte als visuell erkennbare und zugleich absurd unverständliche Sätze endlos wiederholbar sind, wie auf eine philosophische Schrift Ciceros über Schmerz und Lust aus der Antike. Ein blinder Text ohne direkt entzifferbare Bedeutung, der auf die Ambivalenz zwischen philosophischen Ideen von Schmerz und Lust verweist. Mit dem Ausstellungstitel führt K.E. bewusste ihre kontinuierliche Untersuchung und Kritik an normierenden Sprach- und Textsystemen und deren sozialen Auswirkungen weiter – ein Thema, das sie seit ihrer Auseinandersetzung mit dem georgischen Alphabet und der Schrift Asomtavruli immer wieder beschäftigt.
Anna K.E. (geb. 1986 in Tiflis, Georgien) war Schülerin der berühmten georgischen Vakhtang Chabukiani Ballettschule. Sie studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und an der Kunstakademie Düsseldorf. K.E. vertrat Georgien auf der 58. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia 2019. Sie nahm an zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen teil. Ihre Werke sind in bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.
Kuratoren: Adam Budak, Alexander Wilmschen