Dies ist die erste umfangreiche Ausstellung des amerikanischen Fotografen David Armstrong (1954–2014). Zu sehen sind knapp hundert Porträts, eine Auswahl von Landschaftsaufnahmen sowie rund 300 Kontaktabzüge aus den 1970er bis 1990er Jahren.
Warum dieses Werk jetzt?
Erstens ist es ein von Schönheit flimmerndes Dokument seiner Zeit. Wir sehen ein New York, das es so nicht mehr gibt. Es ist das New York als Lebensgefühl jenseits des Empire State Buildings, der Straßenschluchten und gelben Taxis, wie es sich millionenfach in Filmen, Erzählungen, Lebensentwürfen und in der Werbung niedergeschlagen hat. Es ist das New York als Versprechen und das New York als Heimat für Außenseiter:innen und Gestrandete, für Künstler:innen, Dichter:innen, Musiker:innen und Bohèmien:nes. Cookie Mueller, u.a. Schauspielerin in John Waters Skandalfilm Pink Flamingos, hat sie in ihren Texten verewigt, Armstrong wiederum hat viele von ihnen portraitiert, so auch Cookie Mueller. Sie lebten, wie er selbst, in Downtown Manhattan, feierten Partys im legendären Mudd Club und hingen am Strand von Provincetown, Massachusetts, rum. So treffen wir in dieser Ausstellung auf die Schauspielerin und Galeristin Patti Astor, die Künstler:innen John Waters, Greer Lankton, Jack Pierson, Tabboo! und Christopher Wool, den Schauspieler und Filmemacher Vincent Gallo, die Fotografin Nan Goldin, den Kurator Klaus Biesenbach, den Schriftsteller Gary Indiana, den Anwalt und Bürgerrechtler William Kunstler, die Musiker Philippe Marcade, John und Evan Lurie, das Model und spätere Vogue Redakteurin Lisa Love, den Tätowierer Mark Mahoney, die Künstlerin und Modedesignerin Maripol, den Dichter und Kunstkritiker Rene Ricard, das Transgender Model Teri Toye oder eben Cookie Mueller.
Armstrong hat seine Generation fotografiert. Zuerst im Boston der 1970er Jahre, wo er an der School of the Museum of Fine Arts studierte und mit Fotograf:innen und Künstler:innen wie Nan Goldin, Mark Morrisroe oder Taboo! eine Szene bildete. Die frühesten Schwarzweißfotografien zeigen junge Menschen zwischen frühreifer Nachdenklichkeit und zigarettenrauchender Rebellion:
»Als ob es überall sein könnte. Es ist, als ob sie gegen ihre Ausbildung rebellieren würden. Sie sind auf der Kunsthochschule, aber sie wollen nicht diese distanzierten Beobachter:innen sein, sie wollen sich selbst beobachten, ihr eigenes Leben, ihre Freunde, die Drogen, und ihre Bars. … Weißt du, es ging um Queerness, es ging um Punk und Rebellion, es ging um Drogendealer, um Drag-Bars, HIV, das ließ sich nicht voneinander trennen.« (Oral history interview with Lia Gangitano, 2017 February 5-6. Archives of American Art, Smithsonian Institution.).
Die Ausstellung macht sichtbar, wie Armstrong nicht nur Menschen, sondern das Lebensgefühl einer Generation abbildete – und wie er ihm dabei gleichzeitig Form gab. Dieses Lebensgefühl kannte verschiedenste Facetten, es war berauscht und überschwänglich, es war voller Melancholie und Langeweile, es war stolz und randvoll gefüllt mit Coolness und Gefühlen. Randständigkeit wurde als Erfolg gefeiert und vielen blieb auch keine andere Wahl. Sie trafen sich in Clubs, zuerst in Boston im The Other Side, dann in Downtown Manhattan im Mudd Club, einem Punk Club und Antipode zum glamourösen Studio 54. Style war zentral, nicht als Stil, sondern als Haltung, als Bühne und als Sprungbrett in die Selbstvernichtung oder in eine Karriere. Was heute, vierzig Jahre später, jedoch besonders auffällt, ist, mit welcher Schönheit und Hingabe Armstrong seine Leute fotografierte – und mit welcher Direktheit sie in die Kamera blickten. Es gab eine Lust auf das Gegenüber – und sei es nur die Kamera und die Spiegelung. Und es gab ein unverblümtes Vergnügen an Pose und an Verführung. Alle sind sexy. Aber vor allem fällt die geradezu schockierende Intimität auf. Der Schock rührt daher, dass diese Form von Intimität aus unseren Porträts verschwunden ist, ohne dass wir es gemerkt haben.
Das alles hätte leicht schief gehen können, denn es gab von allem zu viel: zu viel Energie, zu viel Intensität, zu viel Zeit und zu viel fehlendes Geld:
»Ja, das Leben in der wirklichen Welt ist hart. Schauspieler:innen müssen kellnern, Balletttänzerinnen arbeiten als Oben-ohne-Gogogirls, Künstler:innen waschen Geschirr und das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Eines Tages bringst du vielleicht deinen Müll in die U-Bahn oder du scheißt dir in die Hosen, während du gerade in deiner Bank anstehst.« schrieb Cookie Mueller in den 1980er Jahren in Another Boring Day, einem 2022 erstmals publizierten Text. Darin aber liegt die Kunst von Armstrong und seine Bedeutung: Dass er diesem Zuviel und Zuwenig dieser Zeit nicht vollen Lauf gelassen hat; dass er es nicht überhöhen und exotisieren wollte, sondern, im Gegenteil, ihm Zügel angelegt hat. Denn Armstrongs Kunst ist, wie andere es bereits festgestellt haben, im Grunde klassisch-konservativ. Musste sie auch sein. Sie orientierte sich an der Malerei, die er ursprünglich studiert hatte, und von der er die Porträtkunst entlehnte, die Landschaftsmalerei und das Genrebild. Diese Bildtypen mit ihren je eigenen, tief in der Geschichte verankerten bildnerischen Konventionen erlaubten es Armstrong, das Gegenüber einzufangen und zu rahmen, um auf das Allgemeintypische (einer Generation, eines Lebensgefühls, eines Moments) zu fokussieren, ohne dem Individuum seine Großartigkeit und Unzulänglichkeit wegzunehmen. Und sie erlaubten es ihm, ziemlich schamlos Schönheit zu zelebrieren: »Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal die Fotos von Peter Hujar gesehen habe. Ich war von Grund auf erschüttert. Ihre Kraft, diese Authentizität und gleichzeitige Zurückhaltung, die Proportionen und die ruhige, dezente Erhabenheit, wie sie auch ‘klassische Kunst’ auszeichnet.« (David Armstrong im Gespräch mit Jack Pierson in Night and Day, 2012).
Armstrongs Werk besteht, grob gesagt, aus drei Werkgruppen: Portraits von Menschen vorwiegend aus seinem Freundeskreis; verschwommene Landschaften ab den späten 1980er Jahren; und, drittens, kommerzielle Aufnahmen für die Fashionindustrie, wie sie ab Mitte der 1990er Jahre entstanden. Im Zentrum der Ausstellung steht die erste Werkgruppe, die Porträts seiner Freund:innen, Lovers und Bekannten, Künstler:innen, Dichter:innen und Dealers. Sie wird ergänzt durch eine Auswahl von rund 300, hier erstmals gezeigten Kontaktabzügen. Diese geben Einblick in Armstrongs Vorgehen und Fotografieren und erweitern den Blick auf sein Schaffen. Wir zeigen in dieser Ausstellung keinen etablierten, musealen Armstrong, sondern einen Künstler an der Arbeit, den es erst noch zu verstehen gilt.
Dazu haben wir eine Reihe von Landschaftsaufnahmen beigefügt. Sie bilden einen Gegenpol zu den Porträts. Im Unterschied zu den Porträts erscheinen sie losgelöst von Ort und Zeit. Einem Gebäude oder einer Landschaft ist es egal, fotografiert zu werden oder nicht. Sie posieren nie und wollen weder gesehen, noch verstanden oder ausgestellt werden. Sie sind einfach da und werden uns lange überleben, und darin liegt die Melancholie, die Armstrong hier inszeniert. Dabei sind Landschaftsabbildungen immer Spiegel der Seele der Autor:innen wie auch der Betrachter:innen. Sie sind Chiffren für Gemütszustände und indirekte Selbstportraits, das genau macht sie so gefährlich und anfällig für Selbstbespiegelungen. Armstrongs Landschaftsaufnahmen entstehen im Moment einer großen und tiefgreifenden Krise am Ende der 1980er Jahre: die AIDS-Epidemie. Sie sind vor dem Hintergrund dieser immensen Tragödie zu verstehen, als Stillleben und Memento Mori. In ihnen ist die Zeit aufgehoben als immerwährende zukünftige Vergangenheit. »Mit seinem heimtückischen Lächeln im Gesicht hatte das AIDS-Virus die Tore unserer Party eingerissen» schrieb die von Armstrong porträtierte Kritikerin Linda Yablonsky 1989 im Ausstellungskatalog für Witnesses: Against Our Vanishing. Nan Goldin, Fotografin und enge Freundin von Armstrong, hatte Witnesses: Against Our Vanishing für den New Yorker Artists Space kuratiert, es war die erste große Ausstellung zum Thema AIDS und löste heftige Debatten aus. Und Cookie Mueller schrieb kurz vor ihrem AIDS-bedingten Tod 1989 in A Last Letter (Ein letzter Brief):
»Jeder Freund, jede Freundin, die ich verloren habe, jeder und jede war ein aussergewöhnlicher Mensch, nicht nur für mich, sondern für Hunderte von Menschen, die ihr Tun und ihre Kämpfe kannten. Es waren Menschen, die unsere Leben um so Vieles verbessert haben. Sie kämpften gegen Ignoranz, gegen den Bankrott der Schönheit und gegen die Vernachlässigung der Kultur. Es waren Menschen, die Kleinlichkeit, Intoleranz, Bigotterie, Mittelmäßigkeit, Hässlichkeit und geistige Kurzsichtigkeit hassten und verachteten. Diese Blindheit, wie sie das Leben aushöhlt und fade macht, war inakzeptabel. Sie wollten, dass wir das sehen. Sie waren alle durch die Kunst verbunden. Wir wissen von Zeit und Geschichte, dass die sensiblen Seelen unter uns immer verletzlicher sind.«
Ein weiterer Aspekt von Armstrongs Schaffen zeigt der Zyklus Night and Day von 1979. Ursprünglich für eine Publikation vorgesehen, wird er hier auf zwei Bildschirmen gezeigt. Es handelt sich um Farbdias, die zwischen New York und Provincetown, Massachusetts, entstanden sind. Während zehn Monaten fotografierte Armstrong seine Freund:innen in Bars, Clubs, Autos, im Bett, in der Badewanne und am Strand: »Es sind Schnappschüsse aus einer Zeit, in der ich tagsüber kaum je wach war.« (David Armstrong, Interview Magazine, 20. Juni 2012). Die Bilderentstanden mit einer 35mm Handkamera, manche unter Verwendung eines Blitzes, den Armstrong sonst nie benutzte. Night and Day ist das Porträt einer Subkultur und Bohème. Geistig dem Punk nahe stehend, präsentieren sich ihre Protagonist:innen voller Stilbewusstsein. Sie kultivieren einen post-romantischen, pseudo-konservativen Rockabilly-Style, wie er von der Band Lounge Lizards auf der Bühne verewigt wurde. John Lurie, einer der Begründer dieser konzeptuellen Indie Band und mehrfach von Armstrong portraitiert, spielte 1984 in Jim Jarmuschs stilbildenden Film Stranger Than Paradise. Dieser Kultfilm der urbanen 1980er Intelligenzia führte den in Night and Day zelebrierten Style in den alternativen Mainstream über.
In welcher Tradition aber steht Armstrongs Werk? Insgesamt kann gesagt werden, dass auch Armstrongs Fotografie, wie die vieler amerikanischer Fotograf:innen, indirekt oder direkt um die Figur der Außenseiter:innen, Heimatlosen, Anti-Held:innen und Einzelgänger:innen dreht. Diese Figur hat die amerikanische Kunst und Kultur wie kaum eine andere geprägt, sie ist die Grundlage des amerikanischen Mythos, des Westerns und des Asphalt Cowboys. Sie ist ohne ihren Gegenentwurf, den Selfmademan, dem Ölbaron aus der Gosse, dem Computermilliardär aus der Garage und dem Immigranten als Hollywoodstar nicht zu denken. Große amerikanische Dichter wie Walt Whitman haben die Figur der Außenseiter:in besungen, sie taucht in unzähligen Filmen und Büchern auf und wird zu einem großen Thema in der Fotografie: Ein wichtiger Teil der amerikanischen Fotografiegeschichte lässt sich entlang dieser Figur aufrollen. Susan Sontag hat es in ihrem 1973 publizierten, wegweisenden Essay »Amerika im düsteren Spiegel der Fotografie« getan. Immer wieder und in neuen Formen hat die amerikanische Fotografie das Individuum als Außenseiter:in und die Außenseiter:in als heroisches Individuum in Szene gesetzt: dokumentarisch bei Walker Evans, sozialkritisch bei Louis Hine, kriminalistisch bei Weegee, romantisch-idealistisch bei Robert Frank, als frühe Street Photograpy by Lisette Model, in gespannter Zweideutigkeit bei Diane Arbus, hyperalltäglich bei Stephen Shore oder in vollendeter Lakonie bei Andy Warhol. Armstrong ist wohl einer der letzten, der diese Figur noch einmal verewigen konnte, bevor sie endgültig entleert und kommerzialisiert wurde. Sein Werk würde demnach den Endpunkt eines Motivs (und einer Epoche) markieren und tatsächlich sind seine Porträts von einer leisen Ironie durchzogen. Also ob sie sagen würden, dass diese randständige Alltäglichkeit, diese stolze Langweile und hedonistische Melancholie wohl bald vorbei sein wird. In all ihrer guten Laune und Eleganz wissen sie von der großen Fragilität. So auch die Porträtierten, die in ihren neo-post-Selbstinszenierungen diese Figur und ihr Leben noch mal abfeiern, als gäbe es kein Morgen. Tatsächlich hat AIDS dem Ganzen ein Ende gesetzt. Und die kommende, unaufhaltsame Kommerzialisierung aller Lebensbereiche tat ihr Übriges. So schauen wir hier auf eine Welt und erkennen, als wären wir auf dem falschen Fuss erwischt worden, was uns alles abhandengekommen ist. Aber eines wird bleiben und das wusste auch Armstrong: die Schönheit. Sie ist die Stärke und gleichzeitig das Problem der Fotografie, und auch das wusste Armstrong. – Daniel Baumann
Kuratiert von Daniel Baumann und Wade Guyton in Zusammenarbeit mit Colleen Doyle, Elizabeth Whitcomb und dem Estate of David Armstrong.
Mit bestem Dank an J. Luca Ackerman, Tom Alexander, Stefano Bartoli, Christopher Bollen, Tess Çetin, Ric Colon, Lia Gangitano, Nan Goldin und Studio, Ben Grieme, James Haslam, Martin Jaeggi, Yuko Kosaka, Andrei Koschmieder, Sadie Laska, Julia Lee, Dimitri Levas, Jessica Lin Cox, Lisa Love, Win McCarthy, David Mramor, Jeanette Mundt, Attila Panczel, Jack Pierson, Michael und Ellen Ringier, Andy Robertson, Andrina Roth, Nicole Skibola, Zach Steinman, Linnea Vedder, Florian Wagner.
Kurzbiographie:
David Armstrong (1954 Arlington, Massachusetts – 2014 Los Angeles) besucht 1974 die School of the Museum of Fine Arts an der Tufts University (Boston) mit der Absicht, zu malen. Er wendet sich der Fotografie zu und bildet zusammen mit Nan Goldin, Phillip-Lorca diCorcia, Mark Morrisroe, Jack Pierson, Taboo!, Gail Thacker und anderen was später als »Boston School« der Fotografie bezeichnet werden sollte. 1977 zieht er nach New York und hat dort seine erste Ausstellung in der Hudson Gallery (zusammen mit Nan Goldin). Er macht die Filmstills für Eric Mitchells Film Underground U.S.A. (1980), in dem Patti Astor, Rene Ricard, Jackie Curtis und Jedd Garet mitspielen. 1981 ist er Teil von New York/New Wave im P.S.1, einer umfangreichen Gruppenausstellung mit Künstler:innen, Dichter:innen, Graffiti-Künstler:innen, Fotograf:innen und No-Wave-Musiker:innen (kuratiert von Eric Mitchell). 1983 stirbt sein Ex-Freund Kevin McPhee an AIDS. 1989 ist er Teil der einflussreichen Ausstellung Witnesses: Against Our Vanishing im Artists Space in New York, kuratiert von Nan Goldin. 1992 zieht er nach Berlin, wo Goldin zu Gast beim DAAD Programm ist. In den 1990er Jahren werden Armstrongs Arbeiten in verschiedenen Ausstellungen gezeigt, unter anderem in der Matthew Marks Gallery (New York), in der Galerie Bruno Brunnet (Berlin), im Museum für Gestaltung in Zürich, an der Whitney Biennal in New York, in der Galerie Scalo (Zürich und New York), bei Yvon Lambert (Paris), im ICA Boston (Boston) oder bei Judy Goldman Fine Art (Boston). In Walter Keller des Scalo Verlags in Zürich findet Armstrong einen wichtigen Förderer, der drei seiner Bücher veröffentlicht: A Double Life. David Armstrong / Nan Goldin (1994), The Silver Cord (1997) sowie All Day Every Day (2002), letzteres herausgegeben vom Zürcher Filmhistoriker Martin Jaeggi. Nach seinem Tod 2014 wird der Estate David Armstrong gegründet und sein Werk von Colleen Doyle und Elizabeth Whitcomb in Zusammenarbeit mit Tess Çetin, Nicole Skibola und Linnea Vedder inventarisiert.