MUTTER*SEIN ist eine entgrenzende Erfahrung: körperlich und emotional. Unsichtbare Care-Arbeit, Denken und Fühlen im Tausch für geringe gesellschaftliche Anerkennung. Welche Geschichten erleben Frauen* im Hinblick auf das Muttersein und die damit verbundenen Projektionen? MUTTER*SEIN versammelt die vielstimmigen Erfahrungen von Frauen* und gibt ihren Geschichten und diversen Realitäten Raum. Es entsteht eine Sammlung von Dingen und Erzählungen, die das Alltägliche wichtig nimmt: Einkaufszettel, Stundenpläne, Tagesabläufe, Familienfotos, Alltägliches und Außergewöhnliches – das Banale, das Erschöpfende, das Glücklich-Machende und das Sinnvolle der Fürsorgearbeit. Eröffnet wird die Ausstellung im Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM) von einem Chor, der das Muttersein in unserer Gesellschaft betrachtet, kommentiert und selbst zu einer Sammlung von Zuschreibungen, Beobachtungen und Erlebtem wird – mal zärtlich, mal böse und mit notwendigem Witz.
Das Team um Eva-Maria Baumeister kreierte eine audiovisuelle Ausstellung, die akustisch, haptisch und visuell Geschichten von Mutter*schaft erzählt. Die Installation aus Interviewausschnitten, Alltagsgegenständen und einer raumgreifenden Textilskulptur ist individuell erkundbar und lädt ein, in den Erzählungen zu verweilen und sich mit diesen zu verbünden. Dafür schallen O-Töne im Raum und aus einigen ausgestellten Objekten: So wird beispielsweise aus einem Knäuel aus »Gummibändern« erzählt, wie die Mutter den Familienalltag ebenso zusammenhält, wie das Gummiband die Brotdosen ihrer Kinder. Altes und sehr altes Spielzeug erinnert an die eigene Kindheit oder die eigene Mutter. Eine Spritze, ein Stillhütchen und ein Wöchnerinnen-Slip sprechen von den körperlichen Strapazen von Geburt und den Säuglingsjahren. Ein Ovulationstest von dem vergeblichen Versuch schwanger zu werden. Einige Objekte wie das Kehr-(Care)-blech, das man kaum aus der Hand legt, berichten von dem Auf und Ab der Care-Arbeit. Auch schmerzliche Geschichten finden ihren Platz in der Ausstellung. Sie enthält Gegenstände, die für den Verlust eines Kindes stehen, ob durch Fehlgeburt, Abtreibung oder frühen Kindstod. Die Sammlung enthält viele intime Gegenstände und Geschichten, wie den Uterus eines Trans*-Vaters, der seinen Sohn geboren hat und daraufhin sein Organ »in den Ruhestand” in Formaldehyd geschickt hat. Nicht nur Mütter gebären Kinder. Das Zentrum der Ausstellung zeigt das raumgreifende Textilobjekt »Die Mutter« von Theresa Mielich, hergestellt aus Strickröcken, gesammelt von einer kinderlosen Frau.
Eine Koproduktion des freien Werkstatt Theaters, des Sommerblut Kulturfestivals, des Rautenstrauch-Joest Museums und der Studiobühne Köln.
Gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, durch das Kulturamt der Stadt Köln und den Fonds Darstellende Künste/Produktionsförderung. Mit Unterstützung des Frauenkulturbüros NRW und ON – Neue Musik Köln.
Sammeln als Akt der Fürsorge
Eva-Maria Baumeister hat für MUTTER*SEIN ihre Praxis des Sammelns und Archivierens angewendet. Damit hat sie 35 Interviews und 60 Gegenstände zusammengetragen. Die Sammlung ist dabei hierarchielos und fürsorglich kuratiert. Für diesen Prozess ist die Künstlerin inspiriert von der “The Carrier Bag Theory of Fiction (übersetzt als „Die Tragetaschentheorie des Erzählens«) der US-amerikanischen Schriftstellerin Ursula K. Le Guin. Diese besagt, dass eine Sammlung von Geschichten andere Erzählungsdramaturgien erlaubt, als die klassische Held*innengeschichte. Sie lässt heterogene Elemente „in einem wirkmächtigen Verhältnis zueinander und zu uns stehen”. Somit wird das Sammeln zu einer feministischen Erzählweise, die eine Alternative zu den patriarchal geprägten Erzählsträngen darstellt. Mit der vielstimmige Sammlung von MUTTER*SEIN möchte Eva-Maria Baumeister also viele Stimmen und Perspektiven zusammenfügen, dass sie sich und einem Publikum begegnen. Dem Publikum die Möglichkeit eröffnen, Gedanken, Gegenstände, Begegnungen zu sammeln und eine eigene Erzählweise daraus erwachsen zu lassen.
Der Chor
Zu drei Terminen wird die Sammlung von einem Chor eröffnet. Er besteht aus Frauen* ganz unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen Lebenssituationen, die das Projekt durch einen Open Call gefunden hat. Es sind Frauen*, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise mit dem Mutter*sein verbunden fühlen. Sie sprechen und singen einen Text von Dramaturgie Sibylle Dudek:
»Mein Text ist selbst auch wie eine Art Sammlung. Ich habe dafür eine Zeit lang ganz intensiv dem gesellschaftlichen Diskurs über Mütter und Mutterschaft zugehört. Dabei habe ich ganz schnell gemerkt, dass dieser Diskurs aus lauter Doppelbotschaften besteht: Die Mutter wird auf der einen Seite idealisiert und auf der anderen abgewertet. Ihr Leben ist heilig und gleichzeitig ist ihr Dasein absolut profan. Überhaupt sind die Erwartungen an Frauen paradox und einfach nicht zu schaffen. Diese Momentaufnahmen aus dem gesellschaftlichen und medialen Diskurs stoßen in dem Text mit individuellen Erinnerungen an die eigene Mutter und das eigene Muttersein zusammen. Das Chorstück ist ein Nachdenken über die Rolle als Mutter und über ihre Stellung in der Familie und in der Gesellschaft.«
Eva-Maria Baumeister – Gedanken und Hintergründe zu dem Projekt MUTTER*SEIN
»Lange Zeit war Muttersein kein Thema, das irgendwie kulturell oder philosophisch betrachtet wurde. Die Erfahrungen, die Mütter gemacht haben, galten eher als profan und nicht erwähnenswert. Wobei sich viele Frauen eigentlich vor sehr ähnliche Herausforderungen gestellt sahen: Wie bleibe ich trotz Kindern ein eigenständiger Mensch? Wie lassen sich Arbeit und Kinderbetreuung vereinbaren? Was für ein Ungleichgewicht entsteht in der Partner*innenschaft oder in der Arbeitswelt durchs Kinder-haben, also durchs Muttersein? Darüber hinaus frage ich mich, welchem gesellschaftlichen Druck sind Frauen* ausgesetzt, die sich entscheiden, keine Kinder zu bekommen? Und welche Kinder und auch welche Mütter sind eigentlich Gesellschaftlich erwünscht und welche sind nicht erwünscht? Ich glaube, lange lange Zeit haben Frauen immer gedacht, dass dies individuelle Probleme sind und diese gesellschaftlichen Forderungen auch irgendwie individuell zu lösen sind. Dass es aber strukturelle Probleme sind, war nicht sichtbar. Obwohl es ja in den 60er und 70er Jahren die Frauenbewegung gab, die auch schon weiter war mit der Forderung, dass das Private eben sehr wohl politisch zu betrachten ist. Erst in den letzten Jahren hat sich eigentlich wieder eine gemeinsame Sprache gefunden. Da waren Begriffe wie ›mental load‹ und ›unsichtbare Care Arbeit‹ sehr hilfreich, um den Diskurs auch nochmal voranzutreiben. An diesen Diskurs schließt das Projekt an. Wir schaffen mit MUTTER*SEIN einen Raum für die Erfahrungen und Geschichten von Personen, die mit diesen Erwartungen und mit dem Begriff der Mutter*schaft konfrontiert sind. Es geht ganz viel um Schmerz, um Überforderung, aber auch um Glück und auch um Trauer. und eigentlich um die Selbstbehauptung im Alltag und um diese Sorge die man jeden Tag für andere übernimmt.«
Eva-Maria Baumeister arbeitet als Regisseurin, Autorin und Kuratorin an der Schnittstelle von (Musik-)Theater, Hörspiel und Performance und ist Mutter von zwei Kindern.
Sibylle Dudek ist Dramaturgin, Autorin und Mutter. Nach Stationen in Wien und Berlin ist sie seit 2013 als Dramaturgin am Schauspiel Köln engagiert.