Die Technik der Radierung, die Drucktechnik Rembrandts oder Goyas, war fast vergessen, als sie durch James McNeill Whistler (1834–1903) und seinen Schwager Francis Seymour Haden (1818–1910) im neunzehnten Jahrhundert als künstlerische Ausdrucksform wiederentdeckt wurde. Lange Zeit war die Radierung von Kunstschaffenden als reine Reproduktionstechnik abgetan worden. Wistler, Haden und andere Künstlerinnen und Künstler in England entdeckten das ungeheure Potential dieser Technik neu und entwickeln sie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zum eigenständigen Zweig der künstlerischen Graphik weiter. Die treibenden Kräfte dieses »etching revival« waren dabei vor allem Malerinnen und Maler, die mit großer Virtuosität die Radierung für eigenständige Bildkompositionen nutzten und originale Kunstwerke schufen. Die Blätter der Malerradierer:innen sind durchdrungen vom Geist der Romantik und oszillieren zwischen Symbolismus und Realismus.

Das Hessische Landesmuseums Darmstadt verfügt Dank einer großzügigen Schenkung aus dem Jahr 2022 über mehr als 100 Werke der epochemachenden englischen Malerradierer:innen. Vertreten sind insgesamt 20 Künstlerinnen und Künstler um den gebürtigen Amerikaner James McNeill Whistler (1834–1903) und seinen Schwager Francis Seymour Haden (1818–1910), einen Londoner Chirurgen, passionierten Künstler und Sammler. Eine Auswahl der besten rund 70 Arbeiten bieten den Besucher:innen ein atemberaubendes Schwarz-Weiß-Feuerwerk.

Die ausgestellten Radierungen zeigen motivisch interessante Bezüge zur Industriegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, deren Folgen uns heute mehr denn je beschäftigen. Dampfmaschine und Schwerindustrie hatten Mittelengland in das »Black Country« – das größte Industriegebiet der Welt – verwandelt. Damit begann vor gut 150 Jahren die ungebremste, grenzenlose Ausbeutung fossiler Energien. Die schwarze Kunst des »Graphic Revival« entstand in einer Zeit als sich die Naturlandschaft mehr und mehr in Industrielandschaft verwandelte. Satt Kirchtürmen beherrschten jetzt Fabrikschlote das Bild, statt einzelner Bauern oder Handwerker jetzt eine anonyme Masse von Lohnarbeitern. Wolken entpuppten sich als aus Industrieanlagen aufsteigender Rauch. In den Kompositionen der englischen Malerradierer:innen wird dieser tiefgreifende Wandel durch die Verwendung starker Gegensätze deutlich. Neben das Schwarz-Weiß oder Hell-Dunkel der Radiertechnik treten Extreme wie Groß und Klein, Leere und Überfüllung, Nähe und Ferne.

Die nach Themen gegliederte Ausstellung beginnt mit Natur- und Landschaftsthemen und führt zu Stadtansichten, Porträts und Genreszenen des einfachen Lebens der ländlichen und städtischen Bevölkerung sowie frühen Industrielandschaften. Wie die Präsentation mit ausgewählten Beispielen zeigt, bestand eine enge Verbindung der englischen Strömung zur avantgardistischen Kunstszene in Frankreich, den Landschaftsmalern von Barbizon sowie den Realisten. Der zweite wichtige Orientierungspunkt für die Engländer:innen war Rembrandts Radierkunst: Whistler, Haden und ihr Kreis waren fasziniert von der freien Art des Niederländers, die Radiernadel zu führen. Die Ausstellung bietet deshalb bei exemplarischen Blättern die einzigartige Chance zum direkten Vergleich mit den wertvollen Radierungen des großen Vorbilds Rembrandt.

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