»Im Widerklang geistiger Energie« möge »bewegtes Leben« entstehen – qiyun shengdong 氣韻生動 – so formuliert der chinesische Gelehrte Xie He im 6. Jahrhundert die erste seiner »Sechs Regeln«, die Malerei zu erfüllen habe. Wo dieser »Reflex des Spirituellen« fehle, brauche man ein Bild gar nicht länger betrachten. Die geistige Dynamik von Kunst, die hier beschworen wird, ist zweifellos ein zentraler Gedanke, der die chinesische Malerei über Jahrhunderte geprägt hat. Dynamisch, prozesshaft und außerordentlich komplex ist oftmals schon die Entstehung eines solchen Kunstwerks: ein Maler bringt in Gegenwart seiner Freund:innen mit Pinsel und Tusche eine Komposition, etwa eine Gebirgslandschaft mit Gelehrtenklause, in einem eher raschen Prozess zu Papier. Später formulieren der Maler selbst, seine Freund:innen, Sammler:innen und oder auch spätere Betrachter:innen des Bildes ihre Kommentare, entweder auf dem Bild selbst oder in Aufschriften, die sich beim Öffnen einer Querrolle an die eigentliche Komposition anschließen – das Kunstwerk wird so zum interaktiven Prozess, der sich sogar über Jahrhunderte hinziehen kann.

Andere Bilder sind in sich geschlossener, entstehen in wenigen Augenblicken, werden vielleicht nur mit einer Künstlersignatur und einem Siegel versehen – oder es wird auch auf diese verzichtet. Gleichwohl faszinieren diese Werke Betrachter:innen kaum weniger. Sie bestechen durch ihren unmittelbaren, emotionalen Ausdruck, eine spontane Geste, die auf ihre Weise die vibrierende geistige Energie spüren lässt, von der Xie He bereits vor eineinhalb Jahrtausenden sprach.

Die chinesische Malerei hat viele Gesichter: Landschaften, religiöse und mythologische Sujets, Genreszenen oder auch Porträts. Dabei wird seit langer Zeit unterschieden zwischen Auftragsarbeiten, die von Berufsmalern ausgeführt wurden und solchen, die von gebildeten »Amateuren« geschaffen wurden und seit jeher weit höher geschätzt werden als die ersteren. Diese »Literatenmalerei« hat viele Erscheinungsformen, zeichnet sich grundsätzlich jedoch durch eine bemerkenswerte Kontinuität und eine zurückhaltende, leise Sprache aus. Nicht selten wird auf Farbe völlig verzichtet, erscheint die Welt in ihnen allein in zarten Tuschespuren. Für Betrachter:innen bieten derartige Werke große Herausforderungen. Und so ist es kaum verwunderlich, dass, anders als z. B. das chinesische Porzellan, die Malerei aus dem Reich der Mitte erst sehr viel später und in weit geringerem Umfang den Weg in westliche Sammlungen gefunden hat.

Auch im Museum Angewandte Kunst, dessen umfangreiche Asiatische Sammlungen in ihren Anfängen auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehen, blieb die chinesische Malerei lange ein Nischenthema. Doch immerhin rund sechzig teils hochbedeutende Werke sind heute Teil der Museumssammlung. Aufgrund ihrer Lichtempfindlichkeit werden sie nur selten und für begrenzte Zeit gezeigt. Diese wurden in einem mehrjährigen Forschungsprojekt ab 2020 wissenschaftlich aufgearbeitet. Anlässlich der Fertigstellung des Projekts wird die bislang weitgehend unbekannte Sammlung Chinesische Malerei im Museum Angewandte Kunst nun in einer Ausstellung präsentiert werden. Parallel dazu sind alle Werke mit genauen Beschreibungen, Umschriften und Übersetzungen aller Aufschriften im neuen Online-Katalog der Sammlungsbestände des Museum Angewandte Kunst der Öffentlichkeit zugänglich. So wird die leise und vielschichtige Sprache dieser Kunstwerke umfassend erfahrbar.

Kurator: Dr. Stephan von der Schulenburg 

Teile diese Veranstaltung
Details der Veranstaltung
Kommentar schreiben

Details der Veranstaltung