Udo Kier kommt am 14. Oktober 1944 in Köln-Lindenthal zur Welt. Am Abend legt die Krankenschwester alle Kinder zum Waschen auf einen Tisch der Geburtsstation. Udos Mutter bittet, den Sohn noch einen Moment in den Armen halten zu dürfen. Als die Bombe einschlägt, bedeckt sie ihn mit einer Hand, die andere stemmt sie gegen die einstürzende Wand. Kein anderes Neugeborenes überlebt, nur die beiden werden aus dem zerstörten Kreißsaal gegraben. Während der Operation Hurricane war auf das Rheinland die größte Bombenlast innerhalb von 24 Stunden abgeworfen worden, mehr als an jedem anderen Tag
des Zweiten Weltkrieges.

Udo wächst im Stadtteil Mülheim auf. Am Morgen klappt er das Schrankbett hoch und geht über Trümmer zur Schule. Linsen und Kartoffeln wechseln in der Suppe ab. Sonntags gibt es ein Stück Fleisch mit grünem Salat und Pudding. Nach dem Essen bekommt er 50 Pfennig und geht ins Kino. Sein Lieblingsfilm wird Suddenly, Last Summer mit Elizabeth Taylor. Der Mutter zuliebe beginnt er eine Lehre bei einem Werkzeuggroßhandel in Kalk. Mit Anfang zwanzig reist der abgeschlossene Kaufmann nach London, um Englisch zu lernen. Er will etwas wie Auslandskorrespondent von Bayer werden. Das Geld für die Reise hat er sich bei Ford am Fließband verdient. In London beginnt, was in Köln nicht passieren konnte. In einem Nachtclub laden ihn unbekannte Männer zu einem Glas Champagner ein. Sie stellen sich als Visconti, Nurejew und Berger vor. Kier weiß vom Rasieren, er sieht fantastisch aus. In London entdeckt er sein Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Der Sänger und Produzent Michael Sarne gibt ihm die Rolle des Gigolos in Road to Saint Tropez (1966). Der Blick der Kamera wird zur zweiten Geburt des Mannes mit den grünen Augen, die niemand vergisst. »Das neue Gesicht des Kinos«, hält noch ahnungslos stauend Ausschau nach der Kamera, als er nach dem ersten Kurzfilm schon wie ein Star gefeiert wird. Für die Regisseure, die ihn engagieren, verkörpert »der schönste Junge der Welt« das Gesicht des Bösen. In seinem ersten Langspielfilm Schamlos (1968) spielt er einen rücksichtslosen Zuhälter.
Der auf Skandal pokernde Film schreit nach einer anderen Wirklichkeit. In Mark of the Devil (1969) mimt er anschließend einen der grausamsten Folterknechte der Filmgeschichte, es folgt die Rolle als Killer in The Salzburg Connection (1972). Die Filme sind hart und werden teilweise kaum gezeigt, prägen aber das künftige Image von Kier. Der Glamour ereilt ihn erst drei Jahre später, die Neigung zum Unheimlichen bleibt: Er bekommt die Hauptrolle in Andy Warhols Frankenstein (1973) und gibt danach den komischsten Dracula (1974) der Filmgeschichte. In Paris und New York wirkt er jetzt hot. Zum kommerziellen Durchbruch wird der engelsgleiche Libertin in Die Geschichte der O. (1975). Mit einem großen Ja zum Leben segelt er als dunkles Gespenst auf den Möglichkeiten. Sein neugieriger Geist will sich aber nicht festlegen.

Unberechenbar flaniert er vom Horrorgenre über opulent ausgestattete Erotikfilme wie Spermula (1976) zum kühl sezierenden Realismus eines Rainer Werner Fassbinder. Treu bleibt er sich in dem, was die Deutschen nach dem Dritten Reich nicht mehr sein sollten: Kier ist gefährlich. Wie ein Raubtier bewegt er sich an den Rändern des Abgründigen, ist auf der Suche nach den Mutigen, die etwas wagen. Zu wild für jede Autorität, steht seine gelangweilte Leidenschaft in anderen Momenten schüchtern in der Ecke, als wäre sie sich selbst unheimlich.

Kier dreht mit Werner Schroeter Goldflocken (1976), mit Robert von Ackeren Belcanto oder Darf eine Nutte schluchzen? (1977) oder Victor (1978, Walter Bockmayer), verrückte Filme, die das US-amerikanische Konzept von Camp in das deutsche Kino übersetzen. Immer voll dabei und ein wenig losgelöst, findet er auf Dauer kein Zuhause. Er bleibt in den »Familien« von Warhol bis Fassbinder ein Einzelgänger, der irgendwann geht. Ein Getriebener, der sich selbst erfindet, aber ohne den Blick der anderen nicht leben kann. Im Hin und Her zwischen Trash, Experimental- und Autorenfilm spannt sich über die Jahre ein Labyrinth der Masken. Darin wird Kier zu einer singulären Kunstfigur, deren Stil verstört und berührt. Lars von Trier – eine der prägenden Begegnungen – gibt ihm die Anweisung »don’t act«, doch schon vorher spielt er so, dass das Publikum nicht fühlt, ob er spielt. Es ist eine Technik, die mehr auf Eindruck als Ausdruck zielt.

Elegant springt Kier zwischen Cinemascope und Super 8, so als wären High und Low etwas wie Gummitwist. Kurz krault er mit entrücktem Blick den Nacken seiner Schildkröte, wirkt im nächsten Moment getrieben von der Lust am Ausnahmezustand. Der Wille, dem Leben alles abzuringen, geht Hand in Hand mit der Gabe zur Improvisation. Regisseure lieben, wie er sich die Szenen schnappt und sie gegen den Strich neu erfindet. Ein Dandy, der Bilder von sich erschafft, die nicht im Drehbuch stehen und sich ins Gedächtnis brennen.

Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung sticht er wieder ins Herz der Gegenwart. In Die letzte Stunde im Führerbunker (1989) unter der Regie von Christoph Schlingensief übernimmt Kier eine Rolle, die er später noch oft spielen wird: Adolf Hitler. Der in einer Nacht gedrehte Film wirkt so, als sollte das Trauma mit einer monströsen Gruppentherapie durchdrungen werden. Nach dem cineastischen Albtraum verlässt Kier Europa. Gus van Sant holt ihn nach Amerika. Wieder beginnt ein neues Kapitel. In Gus Van Sant’s My Own Private Idaho (1991) greift Kier als Hans die Tischlampe des Hotelzimmers um sein Lied Der Adler (1985) zu
performen und stellt mit seinem Playback die jungen Schönlinge in den Schatten. In Amerika nimmt der Deutsche mit dem starken Akzent fast comichafte Züge an, in Filmen wie Barb Wire (1996) mit Pamela Anderson und Johnny Mnemonic (1999) von dem Künstler Robert Longo oder als dekadenter Ehemann, der an der Seite von Madonna Goethes Faust rezitiert, bevor die beiden in einen Sexclub gehen. Kier verfeinert in diesen Jahren seine Meisterschaft, anderen zu großen Auftritten zu verhelfen. Und er schafft es, anstrengungslos auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Gerade beginnt die jüngste Zukunft dieses Komikers des Unheimlichen an der Seite von Hunter Schäfer in dem Computerspiel OD (2025) von Hideo Kojima.

Die Ausstellung Udo is Love maßt sich nicht an, Kier in seiner ganzen Komplexität zu zeigen. Ihr Fokus liegt auf den vielfältigen, oft nur durch Anekdoten bekannten Auftritten in der bildenden Kunst. Eine Liaison, die 1968 begann, als in dem Spielfilm Schamlos der Wiener Aktionist Otto Muehl eine seiner »Materialaktionen« in Szene setzte. Durch die Zusammenarbeit mit Warhol betrat er in den frühen siebziger Jahren die hohe Schule des schönen Scheins, der sich selbst demontiert. Zurück in Köln gab der Künstler Michael Buthe Kier mehrmals die Rolle eines Prinzen. Sigmar Polke, der Kier wiederholt mit seiner Bolex folgte, entwarf 1977 gemeinsam mit Mariette Althaus einen Neonschriftzug, ein bald von der Wand gefallenes Geschenk, dem die Ausstellung ihren Titel verdankt: Udo is Love. Die erste Generation der Videokunst von Marcel Odenbach bis Gábor Bódy ließ sich von der unkünstlichen Künstlichkeit des Außerirdischen aus Köln-Ostheim stimulieren. Rosemarie Trockel hinterfragte mit Kier die Perspektiven des Protests.

Der Anlass zu dieser Übersicht auf Kiers lange Karriere ergibt sich nicht allein aus dessen 80. Geburtstag. Kiers künstlerische Haltung wirkt heute wieder brandaktuell und voll von Möglichkeiten, um mit einer Wirklichkeit umzugehen, aus der man oft einfach nur raus will. Wenn die Welt morgen untergeht, warum sie dann nicht heute noch in fantastische Gegenwirklichkeiten verdrehen. Die Herausforderungen einer aus den Fugen geratenen Realität begreift Kier als Einladung, ihre Entgleisungen noch mehr zuzuspitzen. Ob die Posen, die er dabei einnimmt, den anderen gefallen, scheint ihm egal zu sein, nur langweilig auftreten
will er nicht. Seine Sucht, die Blicke auf sich zu ziehen, ist auch die Suche nach dem, was nicht sein kann. Sie genügt sich dabei nicht selbst, sondern formt eine lange, unabschließbare Bewegung um eine leere Mitte – ein Tanz ohne Namen, der nie alleine getanzt werden kann.

Kuratiert von Hans-Christian Dany und Valérie Knoll

Mit Beiträgen von:
Robert van Ackeren, Gábor Altorjay, Kévin Blinderman / Pierre-Alexandre Mateos / Charles Teyssou, Tabea Blumenschein, Walter Bockmayer, Gábor Bódy, Marc Brandenburg, Klaus vom Bruch, Michael Buthe, Madonna Ciccone, Tom Dokoupil, Rainer Werner Fassbinder, Annette Frick, Monika Funke-Stern, Greg Gorman, Gusztáv Hámos, Astrid Heibach, Birgit Hein, Wilhelm Hein, Jürgen Heiter, David Hogan, Daniel Josefsohn, Peter Kern, Udo Kier, Erwin Kneihsl, Hideo Kojima, Eckhard Kuchenbecker, Robert Longo, Guy Maddin, Charles Matton, Steven Meisel, Klaus Mettig, Elfi Mikesch, Paul Morrissey, Otto Muehl, Helmut Newton, Eva Maria Ocherbauer, Marcel Odenbach, Albert Oehlen, Kurt Raab, Ulrike Rosenbach, Ferdi Roth,
Thomas Ruff, Eddy Saller, Christoph Schlingensief, Martin Schoeller, Ernst Schmidt Jr., Werner Schroeter, Elfie Semotan, Heji Shin, Katharina Sieverding, Jan Soldat, Andrea Stappert, Todd Stephens, Wolfgang Tillmans, Monika Treut, Rosemarie Trockel, Lars von Trier, Gus Van Sant, Timo Vuorensola, Andy Warhol, Craig Zahler, Joseph Zehrer, Britta Zöllner u.a.

Die Ausstellung wird begleitet von einem umfassenden Filmprogramm in Zusammenarbeit mit dem Film Festival Cologne:
Dienstag, 1.10.2024, 19 Uhr: Schamlos, 1968, 78 min, FSK 16, KKV
Dienstag, 8.10.2024, 19 Uhr: Flesh for Frankenstein, 1973, 95 min, FSK 16, KKV
Dienstag, 15.10.2024, 19 Uhr: Blood for Dracula, 1974, 106 min, FSK 16, KKV
Dienstag, 22.10.2024, 19 Uhr: Swan Song, 2021, 105 min, FSK 12, Filmpalast
Freitag, 25.10.2024, 20 Uhr: Belcanto oder Darf eine Nutte schluchzen?, 1977, 94 min, FHK
Dienstag, 29.10.2024, 19 Uhr: 100 Jahre Adolf Hitler: Die letzte Stunde im Führerbunker, 1979, 48 min, FSK 16, KKV
Freitag, 1.11.2024, 20 Uhr: Die dritte Generation, 1979, 105 min, FSK 16, FHK
Dienstag, 12.11.2024, 19 Uhr: Insel der blutigen Plantage, 1983, 88 min, FSK 18, KKV
Freitag, 15.11.2024, 21 Uhr: Pankow 95, 1983, 88 min, FSK 12, FHK
Samstag, 16.11.2024, 17 Uhr: Verführung: Die grausame Frau, 1985, 84 min, FSK 16, FHK
Dienstag, 19.11.2024, 19 Uhr: Am nächsten Morgen kehrte der Minister nicht an seinen Arbeitsplatz zurück, 1985/1986, 70 min, FSK 12, KKV
Sonntag, 24.11.2024, 12 Uhr: Narziss und Psyche, 1980, 208 min, FSK 18, KKV
Dienstag, 26.11.2024, 19 Uhr: Egomania, 1986, 83 min, FSK 16, KKV
Samstag, 30.11.2024, 21:30 Uhr: Europa, 1991, 112 min, FSK 16, FHK
Sonntag, 1.12.2024, 20 Uhr: My Own Private Idaho, 1992, 104 min, FSK 16, FHK
Dienstag, 3.12.2024, 19 Uhr: Johnny Mnemonic, 1995, 92 min, FSK 16, KKV
Sonntag, 8.12.2024, 12 Uhr: Bad Painter, 2024, 140 min, FSK 12, KKV
Dienstag, 10.12.2024, 19 Uhr: Barb Wire, 1996, 98 min, FSK 16, KKV
Freitag, 13.12.2024, 21:30 Uhr: Iron Sky, 2012, 92 min, FSK 12, FHK
Samstag 14.12.2024, 17 Uhr: Goldflocken, 1976, 163 min, FHK
Dienstag, 17.12.2024, 19 Uhr: Brawl in Cell Block 99, 2017, 132 min, FSK 18, KKV

Veranstaltungsorte
KKV – Kino des Kölnischen Kunstvereins (EG), Hahnenstraße 6, 50667 Köln
Filmpalast – Filmpalast Köln, Hohenzollernring 22, 50672 Köln
FHK – Filmhaus Köln, Maybachstraße 111, 50670 Köln

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