Mit der Ausstellung unter dem Titel Eine Welt aus Tau, Und in jedem Tautropfen Eine Welt des Kampfes präsentiert die Kestner Gesellschaft eine erlesene Auswahl traditioneller japanischer Rollbilder aus der Zeit der letzten fünf Jahrhunderte. Die Kunstwerke stammen aus der Sammlung der Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung, die mit ihrem Schwerpunkt auf japanischer Kunst eine Brücke zwischen den Kulturen des Ostens und des Westens schlagen will.
Als Ökonomin, reflektiert Dr. Christiane Hackerodt, interessierte ich mich für die Dynamik der japanischen Wirtschaft. Während meines Forschungsaufenthaltes (1991–1992) faszinierte mich das schnelle, schrille und grelle Geschäftsleben in Tokio und daneben der stille Zen-Garten, die Teezeremonie, eine Alltagsspiritualität der Entschleunigung. Ost und West haben in Kontemplation und Meditation eine gemeinsame Dimension, die ich in der Kunst entdecken und anderen zugänglich machen möchte.
Der Titel dieser Ausstellung greift eines der schönsten Haiku in der Geschichte der japanischen Poesie auf, geschrieben von einem bedeutenden Meister dieser literarischen Form, dem Dichter Kobayashi Issa aus dem 18. Jahrhundert, dem Verfasser von über 20 000 Haiku-Gedichten. Freude, Trauer und Not sowie das Mitgefühl für die Schwachen und Machtlosen machen Issas Poesie universell und auch heute noch relevant. In Eine Welt aus Tau denkt Issa über den Sinn des Lebens, seine Vergänglichkeit und Unbeständigkeit sowie die Schönheit der ihn umgebenden Natur nach.
Eine solch konkrete und zugleich zarte Vision, die sich in punktgenauen Ausdrücken und natürlichen Motiven artikuliert, lässt sich nicht nur in den Haiku von Issa entdecken, sondern auch in den traditionellen japanischen Rollbildern (den so genannten kakemonos).
Unter der militärischen Herrschaft des Shogun und seiner Familien erlebte Japan trotz seiner bisweilen rigorosen Außenpolitik eine blühende künstlerische Entwicklung. Nicht nur die bildenden Künste erfuhren einen stetigen Aufschwung, auch die Literatur und das Theater profitierten von dieser Entwicklung.
Die Techniken der Meister wurden über Generationen weitergegeben und oft auch innerhalb der Familien weitervererbt, so dass die Malschulen und die jeweiligen Kunstwerke eine Zeitkapsel gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen darstellen. Die Verwendung von Natursymbolen im Genre der kachō-ga 花鳥画 (dt.: Blumen- und Vogelbilder) vermittelt einen Eindruck nicht nur von der zeitgenössischen Geisteshaltung, sondern auch von den spirituellen Ebenen der Inspiration. Dieser meditative Charakter und eine ähnliche künstlerische Darstellung lassen sich auf chinesische und buddhistische Einflüsse zurückführen, die bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen.
Die Ausstellung Eine Welt aus Tau, Und in jedem Tautropfen Eine Welt des Kampfes umfasst mehr als 40 japanische Rollbilder mit Schwerpunkt auf den Jahreszeiten und den beliebtesten Naturmotiven – Landschaften mit Blumen und Tieren, einschließlich Vögeln und Insekten, die sowohl die Vergänglichkeit und Unverwüstlichkeit als auch die Zerbrechlichkeit der Natur und ihre Beziehung zum Menschen betonen.
Im japanischen Haushalt werden die Rollbilder, kakemonos, zu besonderen Anlässen aus ihren Aufbewahrungskästen, kiribakus, herausgenommen und in der tokonoma, der dafür vorgesehenen Wandnische, aufgehängt, wenn hohe Gäste zu Besuch kommen. Die Wirkung des Gemäldes wird durch das Ikebana-Blumenarrangement verstärkt. Es intensiviert die gesammelte, in sich gekehrte Stimmung der Teezeremonie, mit der der Gastgeber die Gäste ehrt. Die Gäste ehren den Gastgeber und sein Haus, indem sie vor den Tatami-Matten ihre Straßenschuhe ausziehen und sich in kniender Haltung dem Ort der Teezeremonie nähern.
Diese Form des Rituals und der Rollbilder, meist einfach gehalten und oft mit den zen-buddhistischen Motiven des Bambus, des Felsens, der Pflaumenblüte als Hinweise auf den Weg zur Erleuchtung, führt zur Entschleunigung, zur Reduktion, zum Verzicht – zur Leere. Und hier treffen sich japanisch-asiatische wie auch europäische spirituelle Traditionen der Kontemplation und Meditation. Auch in der Kunst gibt es eine Bewegung, das Wesentliche nicht im Bild, sondern in der Erfahrung dahinter zu suchen.
Die Sammlung der Dr. Christiane Hackerodt Kunst- und Kulturstiftung folgt diesen Spuren und schafft mit dieser Ausstellung eine räumliche Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Eine Möglichkeit der Betrachtung und Interaktion zwischen den Sphären der Kunst und der Geschichte, aber auch eine Einladung zum Nachdenken über Entstandenes und Entwickeltes.
Um den Dialog zwischen den Traditionen der Vergangenheit und der Gegenwart zu intensivieren, umfasst diese Ausstellung zwei zeitgenössische künstlerische Praktiken – skulpturale Werke des japanischen Künstlers Morio Nishimura (geb. 1960, Tokio) und eine filmische Arbeit des Hongkonger Künstlers Samson Young (geb. 1979). Die Bronzeskulptur, Süßer Regen – B 19, 2010, von Nishimura zeigt ein offenes, auf einer Seite aufgerolltes Lotusblatt. Der Titel bezieht sich auf die Eigenschaft des Lotus, sich zum Himmel zu strecken, um Tau-Regen aufzunehmen und als Tropfen zu sammeln. Im Buddhismus ist die flüssigkeitsabweisende Lotusblüte ein Zeichen der Reinheit; diese Symbolik kontrastiert mit der natürlich verwitterten Bronze. Nishimuras kleinformatige Holzskulptur, Süßer Regen – Oblivion Nr. 12, 2018, zeigt die organische Form des Lotusfruchtsamens, während in Süßer Regen – Wandskulptur 29, 2005, das ebenfalls aus Holz gefertigte Lotusblatt leicht gewölbt und aufgerichtet ist und von einem Stiel gestützt in den Raum ragt. Nishimuras Fokus auf die Zerbrechlichkeit der Form wird durch die Sinnlichkeit der Elemente verstärkt, wie in Samson Youngs Video Sonate für Rauch, 2020, einer Meditation über die symbolische und vergängliche Natur des Rauchs, zu sehen ist. Während des gesamten Videos fängt Young die Vergänglichkeit von Rauch ein – insbesondere die verschiedenen Klänge, die sein flüchtiges Erscheinen begleiten. Er verweist auch auf die religiöse Bedeutung von Rauch durch das Verbrennen von Weihrauch. Das Video, das während Youngs Aufenthalt im Ryosoku-in-Tempel in Japan entstand, besteht aus einer Abfolge von Handlungen und Bildern, die sich in Zeit und Raum vorwärts bewegen und so ein Gefühl der Gerichtetheit vermitteln. Bestimmte Motive und Choreografien von Ereignissen – einschließlich ritueller Klänge und Handlungen – wiederholen sich im gesamten Stück. Diese aufeinanderfolgenden, meditativen Handlungen wurden durch die Tempelanlage und ihre Anordnung als Abfolge von Räumen inspiriert. Auch Gegenstände aus dem Tempel tauchen im Film auf, darunter Keramiken, die Eindrücke der architektonischen Merkmale des Tempels vermitteln.
Kurator: Adam Budak