ALL EYES ON setzt inmitten der Galerie ein Werk oder eine Werkgruppe, eine bedeutende Künstlerpersönlichkeit oder künstlerische Position, Gastauftritte einzelner Leihgaben, wichtige Restaurierungen oder Neuerwerbungen in Szene. Die künstlerischen wie technischen Qualitäten der Gemälde, Inhalt und Bedeutung, ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie ihre Schöpfer werden im Kontext der Sammlung beleuchtet. Auf diese Weise eröffnen sich neue, aktuelle Perspektiven und vielfältige Einblicke in die Forschungsarbeit an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
Das tragische Schicksal der Lucretia, die sich vergewaltigen lässt, um die Ehre ihrer Familie zu retten und anschließend Selbstmord begeht, galt im 16. Jahrhundert als Vorbild weiblicher Tugendhaftigkeit.
Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä. reduzieren die Geschichte auf die lebensgroße Aktfigur und nutzen so das humanistische Bildthema für die Darstellung sinnlicher Erotik. Im 17. Jahrhundert wurden beide Bilder in München optisch „entschärft“ und gemeinsam präsentiert – offenbar hatte sich die Wahrnehmung inzwischen verändert und verlangte Anpassungen.
Die Präsentation erzählt die ungewöhnliche Geschichte der beiden Gemälde und soll dazu anregen, über die ganz aktuellen Fragen, unter welchen Bedingungen Darstellungen von Nacktheit als akzeptabel oder als unangemessen beziehungsweise verletzend bewertet werden, nachzudenken.
AKTMODELL UND TUGENDHELDIN
Beide Gemälde erzählen vom tragischen Schicksal der Lucretia: Die für ihre Schönheit und Tugendhaftigkeit gerühmte Römerin wurde 509 v. Chr. von Sextus Tarquinius, dem Sohn des letzten römischen Königs Lucius Tarquinius Superbus, vergewaltigt. Der Gewalttäter drohte Lucretia an, sie bei Gegenwehr zu töten und zu behaupten, er habe sie beim Ehebruch mit einem Sklaven ertappt. Um die Ehre ihrer Familie zu retten, ließ Lucretia die Schändung über sich ergehen. Anschließend rief sie Ehemann und Vater herbei, erzählte ihnen, was geschehen war und beging aus Scham und Verzweiflung Selbstmord. Ihre Familie schwor Rache, und der sich daraufhin entwickelnde Aufstand führte zum Sturz des tyrannischen Königshauses und die Entstehung der Römischen Republik.
Der von mehreren antiken Autoren überlieferte Mythos galt seit Beginn der Renaissance als Vorbild weiblicher Tugend und seine Hauptfigur selbst als eine der heldenhaften Frauen der Geschichte. Damit wurde der Selbstmord der Lucretia ein beliebtes Thema der Malerei, und in der Münchner Sammlung gibt es zahlreiche weitere Beispiele: Jörg Breu d. Ä. etwa gibt 1528 alle Szenen der Geschichte in einem Bild wieder. Andere Darstellungsformen konzentrierten sich auf den Akt der Vergewaltigung oder das verzweifelte Opfer beim Akt der Selbsttötung.
Die Versionen von Albrecht Dürer (1471–1528) und Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) von 1518 beziehungsweise 1524/30 gehören zur zuletzt genannten Variante, nehmen dabei aber eine Sonderstellung ein: Beide zeigen Lucretia als (fast) vollständig nackte Figur in Lebensgröße.
Bei aller Ähnlichkeit gibt es deutliche Unterschiede. Während Dürers skulpturale Lucretia auf dessen selbst entwickelter Proportionslehre zur möglichst naturgetreuen Wiedergabe des menschlichen Körpers beruht, geht Cranach deutlich freier mit anatomischen Details um. Auch stellt Dürer mit dem Bett im Hintergrund einen inhaltlichen Bezug zum Geschehen dar, während Lucretia bei Cranach vor neutralem Hintergrund auftritt.
Profane weibliche Akte in Lebensgröße waren um 1520 in der Tafelmalerei nördlich der Alpen noch eine echte Neuheit: Eine 1509 datierte Venus Lucas Cranachs (Eremitage, St. Petersburg) gilt als das früheste datierte Beispiel. Kurz zuvor, 1507, war Albrecht Dürer mit seinen ebenfalls lebensgroßen Adam und Eva (Museo del Prado, Madrid) auf religiösem Gebiet vorangegangen.
Aktdarstellungen sind unter Dürers Gemälden eine seltene Ausnahme. In der Wittenberger Werkstatt Cranachs entstanden sie dagegen seit den 1520er Jahren in großer Zahl. Im humanistisch-reformatorisch geprägten Umfeld der sächsischen Kurfürsten in Wittenberg, deren Hofmaler Cranach war, gab es hierfür offenbar eine große Nachfrage: Allein vom Selbstmord der Lucretia haben sich über 50 Varianten in verschiedenen Größen aus der Cranach-Werkstatt erhalten.
Zuvor kamen Aktdarstellungen auf Tafelgemälden nur im Kontext religiöser Themen vor – etwa bei den Auferstehenden des Jüngsten Gerichts, dem gekreuzigten Christus oder Adam und Eva. Mit Beginn der Renaissance boten sich durch das neu erwachte Interesse an antiker Mythologie und Geschichte hierfür ganz neue Möglichkeiten.
Derartige Bilder präsentierten dem zeitgenössischen, humanistisch gebildeten und in der Regel männlichen Betrachter gleichzeitig moralische Exempel und Lehrstücke wie auch den nur unter diesem Vorwand darstellbaren erotischen Aspekt der Frauenkörper.
VERÄNDERTE SICHTWEISEN – NEUE PRÄSENTATIONSFORMEN
Am katholischen Hof Maximilians I. (1573-1651) in München, in dessen Sammlung die beiden Gemälde seit Beginn des 17. Jahrhunderts vereint waren, wurde die offene Zurschaustellung weiblicher Nacktheit offenbar anders eingeschätzt als zum Zeitpunkt ihrer Entstehung hundert Jahre zuvor: Die Bilder wurden durch Überarbeitungen optisch „entschärft“ und in die Kammergalerie Maximilians überführt, zu der außer dem Kurfürsten kaum jemand Zutritt hatte. Dabei wurde Cranachs (nun bekleidete) Lucretia so vor der Version Dürers befestigt, dass sie diese vollständig verdeckte und wie eine Tür geöffnet werden musste, um den Blick auf das andere Bild freizugeben.
Die Gründe hierfür mögen einerseits in sittlich-religiösen Bedenken und zunehmender Prüderie vor dem Hintergrund der Gegenreformation gelegen haben. Andererseits führte die Neuinszenierung der Bilder zu einer Steigerung ihres erotischen Reizes: Lucretia war nun an- wie ausgezogen zu bewundern, und die Enthüllung erforderte die aktive Beteiligung des Betrachters.
Dürers Gemälde wurde nur gering verändert, indem das über den Schambereich verlaufende Tuch nach oben hin verbreitert wurde. Cranachs Lucretia verschwand dagegen fast komplett unter einer großflächigen Übermalung. Diese wurde im frühen 20. Jahrhundert wieder entfernt – inzwischen hatten sich die Sehgewohnheiten des Publikums, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Umgang mit historischen Kunstwerken mehrfach grundlegend gewandelt. Die beiden Abbildungen zeigen das Bild im Zustand vor (links) und während der Freilegung 1919 (rechts).
Fragen nach Angemessenheit und kultureller Akzeptanz der Darstellung von Nacktheit sind aber kein Phänomen der Vergangenheit: 2023 stritten christlich-konservative Kreise in den USA darüber, ob Abbildungen von Michelangelos berühmter David-Statue im Schulunterricht weiterhin zumutbar seien, und weibliche Brustwarzen werden in den sozialen Medien von Algorithmen zensiert.
Gleichzeitig könnten Bilder wie der Selbstmord der Lucretia aus einer heutigen feministischen Perspektive auch kritische Fragen nach der Reproduktion männlich-patriarchaler Sichtweisen auf Frauenkörper, nach Voyeurismus und der Darstellung von Gewaltopfern aufwerfen. Die Präsentation soll in diesem Sinne auch dazu anregen, über die Frage, unter welchen Bedingungen Darstellungen von Nacktheit als akzeptabel oder als unangemessen beziehungsweise verletzend bewertet werden, jenseits von kunsthistorischen Kategorien nachzudenken.