Lukas Luzius Leichtle
Die erste institutionelle Einzelausstellung All Thoughts No Prayers von Lukas Luzius Leichtle im NAK Neuer Aachener Kunstvereinpräsentiert eigens für den Kunstverein entstandene neue Malereien und Zeichnungen. Thematisch bauen die Ölmalereien auf Abbildungen aus Leichtles eigener Erfahrung auf: er dokumentiert sich und ausgewählte, angeordnete Objekte aufmerksam fotografisch als Grundlage der Malereien. Damit definiert er den Hyperrealismus neu: als etwas Reales, in dem Traumhaftes steckt. Im besten Sinne des Wortes fake, aber auch realer than real.
Die von hinten portraitierten, maskulin wirkenden rasierten Köpfe in Conductor etwa deuten ein beiläufiges Beobachten zweier Personen an,erhalten durch Bildausschnitt und Farbgebung allerdings eine traumähnliche Qualität. Leichtle beschreibt das verbindende Gefühl der gezeigten Arbeiten als »Vakuum.« Ein materieller Zustand, der als Empfindung im Körper spürbar ist und hier durch Körperabbildungen sichtbar wird. Mit diesem Motiv fügt er seine Subjektivität in die objektiven Situationsaufnahmen ein, die sich vorsichtig allzu realen Gegenständen aus dem Alltag annehmen. Die Bilder erzählen durch Abbildungen und Formensprache phänomenologisch von dem Verhältnis der Erfahrung zur Außenwelt, die ursprüngliche Zustände wie ferne Kindheitserinnerungen oder -erfahrungen von Sprachlosigkeit befreien. Die Oberflächen, teilweise Stoffe, teilweise Haut, erhalten Räumlichkeit und Textur durch Lichter und Tiefen, die der Maler in unzähligen Schichten aufträgt. Eine Vertiefung der Flächen oder ein, wie Leichtle es beschreibt, »haptisches Rauschen«, das mit der Bearbeitung durch Skalpelle, elektrischen Nagelfeilen und Make-Up-Pinseln zu einer präzisen visuellen und emotionalen Erfahrung von Haut wird. Die einzige Abbildung eines tatsächlichen Objekts zeigt ein ausgekipptes Glas. Erst bei näherem Betrachten der Arbeit Hope and Hype wird die angeleitete Natur des Arbeitsprozesses deutlich, da sie im Gegensatz zu den realistisch ausformulierten Details der anderen Werke in der Ausstellung fast comichaft illustriert ist. Die tote Fliege auf der Wasserlache dient als Hinweis auf die kunsthistorische Debatte um die realitätsgetreue Abbildung toter Fliegen, der musca depicta, in Trompe-l’œils, die Fragen nach Figuration in der Malerei überspitzt kommentiert. Entsprechend des Anspruchs auf Realismus findet sich in den Malereien Leichtles ein filmischer Blick, der gleichzeitig an Theater-Tableaus erinnert: lebendig, aber arrangiert, camp, aber melancholisch. Einige der gewählten Bildausschnitte wirken aufsässig, wie das Betrachten der eigenen Füße oder ein durch Druck eines anderen, amorphen Körperteils geknicktes Ohr. Dieser »unmanned gaze” hat sich scheinbar gesellschaftlichen Begrenzungen zum Trotz verselbständigt, seziert und befragt damit das gesellschaftlich akzeptierte Blicken. Entgegen der Entfesselung eines solchen Blicks vermittelt die Farbgebung, die Fläche, die Aufnahme des Körpers in Das Rauschen/The murmur Halt und Wärme: embryonale vibes.
»Ein Gewicht der Bedeutungslosigkeit, an dem es nichts Unbedeutendes gibt und das mich erdrückt. Am Rande der Nichtexistenz und der Halluzination, einer Realität, die mich vernichtet, wenn ich sie anerkenne. Dort sind Abjekt und Abjektion mein Schutz.«* Julia Kristevas Abjekt ist ein Ding zwischen Objekt und Subjekt, das Ekel hervorruft. Es abzustoßen, bedeutet, zwei voneinander getrennte Bereiche zu schützen, Realität zu vereinfachen, wie durch die Unterscheidung von Reinheit und Schmutz, Himmel und Hölle. Diese Fragen nach dem Zustandekommen für die menschliche(n) Erfahrung(en) oft grundlegenden Unterscheidungen nähern sich Leichtles Malereien durch Zartheit an. Sie zeigen, dass Horror nicht die Reaktion auf fehlende Dichotomie sein muss, wie das Konzept der Abjektion nahelegt. Die Reaktion auf Zwischenzustände und Empfindsamkeit ist statt Gewalt und Abwehr Interesse und Zuwendung, die Zustände komplex erfahrbar machen. Es geht vielleicht vielmehr darum, was passiert, wenn wir Zuwendung spüren: In der Lacanianischen Psychonalyse, der das Denken Kristevas angehört, ist die Realität nie unvermittelt, sondern geprägt durch Symbolbildung und Geister der Vergangenheit. Das unterstreicht der autobiographische Ansatz, der in Blende am deutlichsten wird, einer Reihe von Kugelschreiber-Zeichnungen auf Basis von Kindheitsfotos. Der Maler universalisiert seine Erfahrung nicht (wie in der Abstraktion), sondern zeigt sie explizit als eigene, individuelle Erzählung die auf kollektive Gefühle hindeutet. Sie ist at odds oder im Unbehagen mit Normen und fordert daher einen aufmerksamen Blick auf die Emotionen, die über diese Konstrukte hinauswachsen. At odds zu sein als das Ungewisse, (Ver-)Störende, Formlose, emotional Überwältigende nicht abzuwehren, also keiner patriarchal-gewaltvollen Logik zu folgen, sondern im Geschehen, in der verwirrenden Emotion zu verharren. Zu fragen, auf welche Beziehung oder Beziehungslosigkeit sie hinweist und diese zu verdauen.
Leonie Döpper
* Julia Kristeva, (1982), Approaching Abjection, Powers of Horror, Columbia University Press, NY, pp: 1 – 31, S. 2. Übersetzung d. V.
Lukas Luzius Leichtle (*1995, Aachen) studiert an der Kunsthochschule Berlin Weißensee in den Klassen von Friederike Feldmann und Nader Ahriman. Er lebt und arbeitet in Berlin.