Lüsterne Blicke und schmachtendes Hinterherblicken, einsame Begegnungen im Wald, Verführungen in freier Natur, nächtliche Ständchen und Stelldicheins: Carl Spitzweg (1808–1885) stand mitten im Leben und entlarvte mit seinen Anspielungen auf die Liebe und das Eheleben nicht selten die Doppelmoral, die sich hinter der Maske von Bürgerlichkeit und Sittsamkeit verbirgt.
Kein Thema beschäftigte Spitzweg so mannigfaltig wie die Liebe, und wenige Werke sind mit dem Namen des wohl berühmtesten Malers des Biedermeier so eng verbunden wie Der abgefangene Liebesbrief und Der ewige Hochzeiter. Mit seinen subtilen Andeutungen, hintergründigen Symbolen und seinem charakteristischen Bildpersonal avancierte er zum unumstrittenen Meister der Überzeichnung, des Komischen und Grotesken.
Jäger und Sennerinnen, vornehme Damen und Herren, Dienstmädchen mit weißen Schürzen, Apotheker und Mineralogen: Bei Spitzweg ist niemand vor Begierde und Verlangen sicher, aber auch nicht vor Verlust, Verzicht und unerfüllter Liebe, wie etwa Der Witwer. Selbst Eremiten, Mönche und Pfarrer verfallen scharenweise der Liebe. Sie alle, die stürmischen Verführer, schüchternen Verehrer und vor Liebe närrisch Gewordenen, die schrulligen Kaktusliebhaber und die einsamen Wissenschaftler, sie alle weisen Parallelen zu Spitzweg auf, der sich nie verheiratete.
Nach dem frühen Tod seiner großen Liebe, der Schreinermeisterstochter Clara Lechner, blieb er zeitlebens in »Amouren und Amürchen« verstrickt.
Spitzwegs Bildinhalte sind hochkomplex, verborgene Sehnsüchte und geheime Begierden verstecken sich bei ihm meistens in Bildsymbolen. Neben Liebesbriefen, Blumensträußen oder schnäbelnden Tauben spielt ein roter Regenschirm dabei eine herausragende Rolle. Dieses bislang übersehene, aber überaus wichtige Detail in der Bildwelt Spitzwegs erlaubt einen frischen Blick auf sein Leben und seinen Liebes- und Ehebegriff wie auch auf sein Frauenbild und die Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert.
Schon zur Zeit Spitzwegs war der rote Regenschirm ein Requisit der Hochzeitslader im schwäbischen Raum. Dieser Zeremonienstab bäuerlicher Hochzeit begleitet viele von Spitzwegs Bildfiguren. Er fehlt nicht bei Spaziergängen, Reisen und Wanderungen und auch nicht beim Arbeiten im Büro oder im Studierzimmer. Vermutlich stach er Spitzweg 1835 bei den öffentlichen Feierlichkeiten zur Silberhochzeit von König Ludwig I. auf der Theresienwiese in München ins Auge und fand im gleichen Jahr Eingang in seine Malerei.
Auch im Entwurf zu Der arme Poet, seinem wohl bis heute berühmtesten Gemälde, ist er in der Dachschräge platziert. Bis 1880, also von Anfang bis Ende seines Schaffens, blieb der rote Regenschirm fester Bestandteil seiner Bildwelt.
Spitzweg ging es indes nie um das Attribut der Hochzeitsladung als solches. Von Anbeginn isoliert er den roten Schirm aus seinem Kontext. Meistens erscheint der rote Schirm wie zufällig hingestellt, lehnt belanglos an Kommoden und Baumstümpfen oder liegt wie vergessen im Gras oder am Boden. Diese Beiläufigkeit verleiht ihm seine große Bedeutung, denn Spitzweg überließ in seinen Kompositionen nichts dem Zufall. Mit Gewitztheit und Komik inszeniert Spitzweg darüber hinaus auch Schirme aus der Modewelt als absurde Macht- und Herrschaftsinstrumente: Denn der Schirm hatte einen historischen Bezug zu Baldachinen und Traghimmeln in religiösen und höfischen Bereichen und gehörte seither zu den Luxusartikeln der gehobenen Schichten.
Auf diese Weise gelang es Spitzweg, der ab 1844 als Karikaturist für die Fliegenden Blätter zu arbeiten begann, das bürgerliche Establishment mit Spott und Sarkasmus aufs Korn zu nehmen und der prüden und restaurativen Epoche des Biedermeier den Spiegel vorzuhalten.
Die Schirmsymbolik lässt keinen Zweifel daran, dass Spitzweg weder der kauzige Sonderling noch der brave biedermeierliche Idyllen-Maler war, als der er lange Zeit galt. Als sich der Sohn eines Großkaufmanns 1833 entschloss, seinen Beruf als Apotheker an den Nagel zu hängen und freier Künstler zu werden, unterschied sich seine Art der Selbstreflexion wenig vom heutigen Zeitgenossen. Antworten auf die Frage, wie will ich leben und was macht mich glücklich, fand Spitzweg vor allem in Italien und auf seinen Wanderungen durch die Natur. Hier entdeckte er Leidenschaft, Sinnlichkeit und Natürlichkeit, die dazu führten, dass er der bürgerlichen Oberschicht den Rücken kehrte und die wachsenden gesellschaftlichen Prozesse mit Skepsis betrachtete.
Spitzweg war ein wachsamer Beobachter seiner Zeit und nahm die menschlichen Schwächen an sich selbst und seinen Mitmenschen wahr. Als Künstler, Naturwissenschaftler und moderner Städter war er äußerst belesen und reiste viel. Einfluss auf seine Malerei gewannen sowohl die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Vormärz als auch Literatur, bildende Kunst und Theater. Inspiriert zeigt sich sein geistreicher Witz dabei vor allem von der italienischen Opera buffa und den Komödien Molières und Carlo Goldonis, der pikanten Symbolsprache der barocken niederländischen Genremalerei und der an Einfluss gewinnenden Karikatur.
Die Ausstellung ist eine Kooperation mit dem Kunsthaus Apolda Avantgarde, kuratiert von Dr. Andrea Fromm, Hamburg. Es werden über 100 bedeutende Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken gezeigt. Leihgaben kommen unter anderem aus Museen in Frankfurt, Marburg, Milwaukee (USA), München, Salzburg, Wuppertal und aus Privatbesitz der Spitzweg-Nachfahren.
Dazu erscheint ein umfangreicher Katalog mit Abbildungen aller ausgestellter Werke, der das Thema in seinen Facetten beleuchtet.