Die Secession freut sich, die große Gruppenausstellung Forms of the Shadow zu zeigen. Die Schau wurde von Sunjung Kim, der künstlerischen Leiterin des Art Sonje Center in Seoul, kuratiert. Die Ausstellung wirft ein Schlaglicht auf diejenigen Schatten in der heutigen Welt, die durch die globale Pandemie, die Klimakrise und geopolitische Spannungen zutage getreten sind. Anhand dieses thematischen Schwerpunkts lädt sie die Besucher:innen ein, auf unsere vernetzten Gesellschaften und die vielfältigen Schwierigkeiten turbulenter Zeiten zu reflektieren. Indem sie das im ständigen Wandel begriffene Wesen von Schatten und ihre metaphorische Bedeutung für Zeitgeschichte und Zeitgenoss:innenschaft beleuchtet, fordert die Ausstellung zum Nachdenken über die Vielschichtigkeit der menschlichen Existenz auf.
Die in Forms of the Shadow gezeigten Werke sind in drei Gruppen unterteilt. Die Arbeiten in der ersten Gruppe erkunden mittels vielfältiger künstlerischer Ausdrucksformen geopolitische Spannungen, insbesondere entlang der Demilitarisierten Zone (DMZ) in Korea. Darunter sind Minouk Lims Installation mit Militärdecken, ein Stahlturm von Lee Bul und detailreiche Stickereien von Kyungah Ham. Außerdem untersucht Jin-me Yoons Werk Beneath (2012) die Herausforderungen und Querverbindungen in weiter gefassten zeitlichen und gedanklichen Landschaften: Die Multikanal-Videoarbeit zeigt die Künstlerin dabei, wie sie damit ringt, die historischen und geografischen Koordinaten zu durchqueren, die das Wien der Jahrhundertwende und der Habsburger und die heutige Stadt definieren und miteinander verknüpfen.
Gleich einem Schatten, der im Tagesverlauf über eine Landschaft gleitet, wandert auch die Ausstellung und reicht über die koreanische Halbinsel hinaus. Im Foyer der Secession werden die Besucher:innen von einem ortsspezifischen Bodengemälde begrüßt, das die geologischen Schichten der Erde evoziert. Es stammt von den iranischen Künstlern Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian. Die Erforschung geopolitischer Spannungen wird auch in Nilbar Güreş’ Video vertieft, das einen Besuch in der Heimatstadt ihres Vaters in Ostanatolien dokumentiert, wo kurdische und alevitische Minderheiten zuhause sind. Ähnliche Spannungen werden dann in einer großen Installation des argentinischen Künstlers Adrián Villar Rojas über verschiedene Räume und Zeiten hinweg entfaltet: Ein Monderkundungsroboter der NASA hält eine verkleinerte Kopie von Michelangelos David in der Hand, links und rechts flankiert von zwei Monolithen, auf denen diverse Fahnen drapiert sind, eine Erinnerung an die Mondlandung von Apollo 11 und damit an den Wettstreit während des Kalten Krieges. Indem sie vorführt, was einmal als für menschliches Streben unerreichbar galt, spielt die Arbeit auf die fehlgeleiteten Utopien an, die im Kalten Krieg im Umlauf waren und entscheidend zu den Tragödien beigetragen haben, die sich bis heute auf der koreanischen Halbinsel abspielen. Der Schatten ist in Tomoko Yonedas eindringlichen Fotografien von Orten wie dem Schauplatz der Landungen am D-Day in der Normandie oder den Klippen, wo sich japanische Soldaten und Zivilist:innen nach der amerikanischen Landung in Saipan das Leben nahmen, zugleich abwesend und unverkennbar allgegenwärtig. Dasselbe gilt für die Gesichter der »gefeierten« Statuen ostasiatischer Figuren, die sich in Young In Hongs szenischer Textilarbeit Double Encounter (2009) mit den Porträts ganz gewöhnlicher Menschen mischen.
Während diese erste Gruppe von Werken ein melancholisches Gefühl der Hoffnung für die Zukunft verkörpert, decken die anderen Konstellationen weitere tragische oder beunruhigende Wahrheiten über das Leben und den Tod auf. Jane Jin Kaisens Arbeit etwa stellt Szenen einer Beerdigung üppiger Natur gegenüber, während Lee Kits Projektionen, Klänge und diverse zurückgelassene Objekte oder Ramiro Wongs Koffer das Außenseiterdasein ins Auge fassen. In einer abstrakt-monochromen Installation von Haegue Yang wird wiederum von der ungewöhnlichen Beziehung und dem tragischen Tod von Petra Kelly und dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Gert Bastian – Mitbegründer:innen der deutschen Grünen – erzählt.
Der letzte Teil der Ausstellung erstreckt sich von der Secession bis in das nahegelegene Korea Kulturzentrum und ist der Vorstellung gewidmet, dass sich die Natur in der Vergangenheit durch menschliche Eingriffe beeinträchtigte Gebiete zurückerobert – ein herausragendes Beispiel ist die DMZ, die seit über 70 Jahren unzugänglich ist. Im Kontrast mit den stark durch den Menschen geprägten Räumen, die sonst in der Ausstellung zu sehen sind, lenkt dieser Teil die Aufmerksamkeit darauf, wie Pflanzen und Tiere Land wieder in Besitz nehmen, das aus dem einen oder anderen Grund für Menschen nicht mehr bewohnbar ist. Zu den Werken, die so das Wiedererwachen des Lebens veranschaulichen, zählen Joon Kims eindringliche Klanglandschaft des natürlichen Ökosystems, das sich entlang der südlichen Grenzlinie der DMZ erhalten hat; dagegen durchbricht der Lärm von Artilleriegeschossen – Symbol für den anhaltenden Kalten Krieg – die Bilder der Flora in der DMZ in ikkibawiKrrrs Film Rhapsody (2024). Dieser läuft in der Galerie, in der auch Klimts Beethoven-Fries zu sehen ist. Oben im Kabinett vertiefen Min Yoons Skulpturen gefallener Blätter und die Zweikanal-Filminstallation News from Nowhere: Freedom Village (2021) von Moon Kyungwon & Jeon Joonho die Betrachtung der organischen sowie von Menschen geschaffenen Strukturen, die im buchstäblichen Niemandsland dieser Grenzregion zwischen Nord- und Südkorea ein Eigenleben zu entwickeln scheinen.
Die Arbeiten, die im Korea Kulturzentrum gezeigt werden, setzen eine geografische Verschiebung anderer Art ins Werk, um weiter der Beziehung zwischen Natur und Mensch nachzugehen. Young In Hongs White Cranes and Snowfall (2024) und Jin-me Yoons Video Dreaming Birds Know No Borders (2021) rücken Vögel als nomadische und transitorische Akteur:innen in den Vordergrund, für die Grenzen kein Hindernis sind. Mikael Levins Serie Mine Sublime (2015) dagegen unterstreicht die Zerbrechlichkeit des Lebens und Sterbens in der DMZ: Militärische Befestigungen stehen in scharfem Kontrast zu friedlichen Reisfeldern, zwischen denen sich Minengürtel dahinziehen. Die Verwobenheit allen Lebens auf unserem Planeten spricht schließlich aus Minouk Lims empfindlicher Skulptur 몸Mom (2024). Die aus Terracotta-Staub, wildem Süßholz – einer Pflanze, deren Wurzeln in Korea als Tee genossen werden – und getrocknetem Scandia-Moos gefertigte Arbeit erinnert an eine mütterliche menschliche Gestalt mit einem Gehstock. In Anspielung auf das koreanische Wort für „Flechte«, »지의류«, das wörtlich übersetzt »Kleid der Erde« bedeutet, symbolisiert 몸Mom die Einsamkeit und Abgeschiedenheit, die durch Grenzen und Mauern entstehen, und verweist zugleich auf die rettende Wirkung mütterlicher Liebe.
Über historische wie geografische Grenzen hinweg bietet Forms of the Shadow differenzierte Einsichten in die Widerstandskraft der menschlichen Eingriffen ausgesetzten Natur sowie in die nicht nachlassende Suche nach Hoffnung in schwierigen Zeiten. Skulpturen, Gemälde, Textilarbeiten und Performances laden die Besucher:innen ein, sich auf eine sinnliche Reise einzulassen, die die vielfältigen Komplexitäten der menschlichen Erfahrung ergründet, um den ewigen Tanz zwischen Licht und Schatten einzufangen, der unsere gemeinsame Existenz auf diesem Planeten bestimmt.
Kuratiert von
Sunjung Kim (Gastkuratorin / guest curator)
ist künstlerische Leiterin des Art Sonje Center in Seoul (2022–), Vorsitzende von ICOM Republik Korea (2023–) und Mitglied des Vorstands von ICOM ASPAC (International Council of Museums Asia-Pacific Alliance). Sie war Präsidentin der Gwangju Biennale Foundation (2017–2021), Leiterin des Art Sonje Center (2016–2017), künstlerische Leiterin von ACC Archive & Research at the Asia Art Culture Center (2014–2015) und Chefkuratorin und stellvertretende Leiterin (1993–2004) des Art Sonje Center. Sie ist außerdem Gründerin und künstlerische Leiterin des REAL DMZ PROJECT, eines 2011 ins Leben gerufenen Kunst- und Forschungsprojekts, das den Rahmen des Museums sprengen, die (un)sichtbaren Grenzen der Demilitarisierten Zone durch kritische künstlerische Perspektiven erkunden und die Teilung Koreas in Erinnerung rufen soll. Kürzlich kuratierte sie die Ausstellung Speculations von Do Ho Suh im Art Sonje Center.