Unter den Tieren, die Franz Marc bevorzugt gemalt hat – Pferde, Katzen, Esel, Vögel – nimmt das Reh einen besonderen Platz ein. Dieses Motiv, das sein gesamtes Werk durchzieht, hat auch eine besondere symbolische Bedeutung.
Diese symbolische Qualität speist sich aus mittelalterlichen Märchen, romantischer Dichtung und Mythologie sowie Naturbeschreibungen, die das Reh als besonders graziles, anmutiges Tier schildern, schutzlos, scheu und mit großen braunen Augen. In Erzählungen wird es vermenschlicht und deutlich mit dem Weiblichen in Verbindung gebracht.
Franz Marc unterstreicht auf seinen Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden diese Zuweisungen. Das Reh als Opfer der menschlichen Zivilisation ist ein zentraler Gedanke im Werk Franz Marc, der in Sindelsdorf und Ried selbst zwei zahme Rehe besaß. Es ist auch ein Topos, der sich durch die Darstellung des Tiers in sämtlichen Epochen und Medien zieht. Von Gustave Flaubert über Georg Trakl bis zu Walt Disneys Bambi (1942, dt. 1950) wird das unschuldige Reh der Grausamkeit der Menschen gegenübergestellt. Ausgehend von Marcs Gemälde Rote Rehe zeigt die Ausstellung, dass auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bedeutung von Reh und Hirsch als Opfertiere latent bleibt. Dies gilt besonders für Joseph Beuys, für den der Hirsch von großer symbolischer Bedeutung ist und schon in den frühen Zeichnungen und Aquarellen des Künstlers häufig auftaucht. Bei Sigmar Polke allerdings, der ein stilistisch durchaus an Franz Marc erinnerndes Reh auf eine Wolldecke malt, die an Schullandheime, Jugendbewegung und Vertreibung denken lässt, geht es weniger um die Schutzlosigkeit des Tiers, als um eine Kritik kleinbürgerlicher Mythen, mit denen das Reh über Heimatfilm und Waldromantik auch verbunden ist.