Diesen Herbst präsentiert das Haus am Waldsee, in Kooperation mit dem Georg Kolbe Museum und den Sophiensælen, erstmals in Berlin das künstlerische Werk von Gisèle Vienne (*1976). Im Haus am Waldsee entsteht eine groß angelegte Einzelausstellung, die sich über das gesamte Haus erstreckt. Die französisch-österreichische Künstlerin, Choreografin und Regisseurin hat in den letzten 25 Jahren ein komplexes und eigensinniges Werk geschaffen, das unsere Wahrnehmungsmuster hinterfragt und künstlerische Sprachen erfindet, um den Weg für strukturelle gesellschaftliche Veränderungen zu ebnen. Viennes Kreationen, sowohl auf der Bühne als auch in ihrer visuellen Praxis, werden zusammen mit Tänzer:innen und Schauspieler:innen entwickelt und oft von anthropomorphen Figuren und Puppen belebt, um die Sinnlichkeit, Wut und Kreativität von Gegenkulturen in ihrem ganzen subversiven Potenzial zu erforschen. Indem sie ihre philosophischen Einflüsse mit ihrem ästhetischen Erfahrungsschatz zusammenführt, versucht ihre Arbeit auf der Bühne und in anderen Bereichen, die vorherrschenden Strukturen umzustoßen und neue künstlerische Formen zu entwickeln, die die Welt anders zu kodieren versuchen.
Vienne arbeitet vorwiegend auf der Bühne, wo sie ihre Praxis durch die Einbeziehung vorwiegend lebensgroßer Puppen erweitert, die hauptsächlich Jugendliche darstellen. Ihre Verwendung von Puppen, angesiedelt in der figurativen Bildhauerei, entfaltet eine dezidiert politische Dimension in Bezug auf den Körper als einen Ort, an dem kulturell und sozial konstruierte Wahrnehmungsdispositive in Frage gestellt, kritisiert und möglicherweise aufgelöst werden können. Indem sie die Sehnsucht und Ängste einer krisengeschüttelten Jugend inszeniert, erkennt sie die Empfindungen ihrer Protagonist:innen in all ihren politischen und gesellschaftlichen Aspekten an. Viennes Werk ist Teil eines Kampfes gegen normierende, autoritäre Kräfte, die auf Psyche und Körper einwirken. »Gisèle Vienne begibt sich auf eine akribische, hartnäckige und anspruchsvolle Suche. Sie erkundet den Rahmen der Intelligibilität, die unsere Gestik, unsere Vorstellungskraft und unsere kollektiven Mythen, unsere Identitäten, unsere Moral und letztendlich die soziale Ordnung bestimmt.« [1]
Die Ausstellung versammelt die lebensgroßen Puppen, die Vienne in den letzten zwanzig Jahren geschaffen hat, in einer sorgfältig komponierten Installation neben einem Konvolut an Fotografien der Künstlerin, die das vielfältige Spektrum der Puppen abbilden. Die Inszenierung der Ausstellung in Form eines Puppenspiels wurde gezielt für die Architektur des Hauses am Waldsee entwickelt, wo Überlagerungen von Sprache, Klang und Bewegung mit der Stille und Unbeweglichkeit der ausgestellten Puppen kontrastiert werden. Hier schafft Vienne ein Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und beleuchtet Momente, die »das Bewusstsein zum Zerbrechen bringen«. Der Titel This Causes Consciousness to Fracture ist einem Track aus dem Album Patterns of Consciousness (Important Records, 2017) von Caterina Barbieri entlehnt, Viennes Kollaborateurin für das Bühnenstück EXTRA LIFE (2023).
Die Ausstellung ist Teil einer Zusammenarbeit zwischen dem Haus am Waldsee, dem Georg Kolbe Museum und den Sophiensælen. Die drei Institutionen bringen Viennes Werk in seiner ganzen Komplexität im Rahmen der Berlin Art Week 2024 in die Stadt und präsentieren unterschiedliche Zugänge zu ihrer facettenreichen Praxis, die sich zwischen Fotografie, Skulptur und Installation, Film, Choreografie und Theater ansiedelt. Das Haus am Waldsee eröffnet This Causes Consciousness to Fracture am 11.9.2024 (Ausstellung vom 12.9.24–12.1.25). Im Georg Kolbe Museum eröffnet die Ausstellung, die Viennes Werk im Kontext von Avantgarde-Künstlerinnen präsentiert, am 12.9.2024 (Ausstellung vom 13.9.24–9.3.25). Der Film Jerk von Gisèle Vienne wird im Rahmen eines Künstlerinnengesprächs in den Sophiensaelen am 15.9.2024 gezeigt. Die Aufführungen von Crowd werden dort am 14./15./16.11.2024 gezeigt.
[1] Elsa Dorlin, »An die verfluchte Rolle, die wir spielen: Gisèle Vienne«, Magazin Ruhrtriennale, 2021, online unter: https://archiv.ruhrtriennale.de/2021/de/magazine/an-die-verfluchte-rolle-die-wir-spielen-gisele-vienne/62.html