Heilige Frauen sind Protagonistinnen der Religionsgeschichte, Herrscherinnen, Helferinnen und Heilerinnen sowie Gestalterinnen eigener Lebensräume. Die Ausstellung IKONA. Heilige Frauen im Museum Angewandte Kunst widmet sich erstmals der Vielfalt ihrer historischen Funktionen, erkämpften Handlungsspielräume und aktuellen sozialen Bedeutungen. Die 78 ikonischen Darstellungen weiblicher Heiliger zeigen die Pluralität orthodoxer Kulturen aus mehr als sechs Ländern. Ihre detailreich gestalteten Geschichten erzählen von Frauenbiografien aus frühchristlichen Zeiten bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Entlang dieser Geschichten stellen sich Fragen nach religiösen Praktiken im Zusammenspiel mit sakraler Kunst ebenso wie nach der Tradition von Machtverhältnissen, Rollenbildern und deren Veränderung.
Die Ikonen wurden überwiegend in Russland und Griechenland, aber auch in Rumänien, Bulgarien, Ägypten und Bethlehem zwischen dem 15. und dem 21. Jahrhundert gefertigt. Die erstmalige Kooperation der drei größten Ikonenmuseen Westeuropas aus Kampen (NL), Recklinghausen und Frankfurt/Main und mit ihnen verbundener Privatsammler:innen ermöglicht es, ein solch facettenreiches und breites Spektrum weiblicher Heiligkeit in der christlich-orthodoxen Tradition zu zeigen.
Die Erzählungen um heilige Frauen werden seit Jahrhunderten auf Ikonen in überlieferten Techniken der Ikonenmalerei und mit den wertigsten Materialien ausgeschmückt: Während Eva und Maria bekannte Rollenbilder bis heute prägen, brechen andere biblische Erzählungen diese auf. Frauen haben wichtige Funktionen in den neutestamentlichen Geschichten um Jesus als Zeuginnen seiner Passion und Auferstehung sowie Verkünderinnen seiner Botschaft. Die prägende Rolle von Frauen wie Maria Magdalena wird heute neu diskutiert.
Vita-Ikonen berichten detailliert vom selbstbestimmten und unerschrockenen Handeln von Märtyrerinnen bis in ihren Tod hinein, das auch Geschlechterrollen überschreitet. Gelehrte Frauen messen sich in Disputen mit Männern – und wissen zu überzeugen. Andere Frauen entwerfen als Gründerinnen und Betreiberinnen von Klöstern neue Formen des Zusammenlebens. Als Nonnen und Äbtissinnen organisieren sie ihr Leben und ihren Unterhalt, sorgen lebenslang füreinander und nehmen als Netzwerkerinnen auch auf ihr weltliches Umfeld Einfluss. Eremitinnen, wie Maria von Ägypten, ziehen sich in ihrer lebenslangen Gottsuche asketisch aus der irdischen Welt zurück. Andere Frauen üben weltliche wie geistliche Macht als Herrscherinnen aus, wobei ihre Regentschaft eine eigene Handschrift zeigt. Als Helferinnen und Heilerinnen werden heilige Frauen bis heute von sowohl weiblichen wie männlichen Gläubigen bei verschiedenen Nöten und Krankheiten angerufen. Zu befragen bleiben Ikonen von Sophia, der Weisheit Gottes: Die Darstellungen dieser ambivalenten Figur bewegen sich zwischen christologisch-männlicher und mariologisch-weiblicher Interpretation. Die Weisheit Gottes entzieht sich jeder Geschlechterzuordnung.
Ikonen sind mehr als kunstfertig gestaltete Bilder von Heiligen. Als sakrale Medien entfalten sie für die orthodoxen Christ:innen eine besondere Präsenz und Wirkkraft: Sie holen die Heiligen in ihre Gegenwart und erlauben die Kommunikation mit diesen in Gebet und Anrufung. Die 78 Ausstellungsstücke bezeugen jedoch nicht nur religiöse Praxis, sondern auch vielgestaltige Ausdrucksformen angewandter Kunst. Temperamalerei auf Holztafeln verschiedener Größen, Metallikonen aus gegossener Bronze, Hinterglasmalerei, kleine Umhängeikonen und Medaillons aus Emaille, Schatullen in Lackmalerei – die Vielfalt an verwendeten Materialien und handwerklichen Techniken führt die große Bedeutsamkeit heiliger Frauen für die spirituelle Praxis zu Hause und in der Gemeinschaft anschaulich vor Augen.
Mit der für IKONA entwickelten ortsspezifischen Soundinstallation VIRIDESCENCE schlagen der Komponist und Performer Raphaël Languillat und die Sopranistin Maren Schwier eine Brücke von den dargestellten heiligen Frauen zu Hildegard von Bingen. Inspiriert von Viriditas, der Grünkraft, werden dabei mystische Kompositionen der Heiligen Hildegard (1098-1179) mit immer neu erzeugten elektronischen Klangmustern verbunden.
Kuratorin: Dr. Konstanze Runge in Zusammenarbeit mit Liesbeth van Es (Kampen) und Dr. Lutz Rickelt (Recklinghausen)