Eröffnung: Donnerstag, 28. November, 18 Uhr

Im Jahr 1996 reiste der damals noch in Erfurt lebende Künstler Matthias Geitel für das Casa Baldi-Stipendium ins italienische Olevano Romano, eine Kleinstadt, östlich der Hauptstadt Rom gelegen. Berühmtheit erlangte die Casa Baldi genannte Herberge im 19. Jahrhundert für europäische Künstler, die für ihre Studien nach Rom gereist waren und im Sommer die Zeit in den Bergen verbrachten, immer unterwegs – zu Fuß oder auf dem Maulesel reitend.

Matthias Geitel setzte sich mit dieser Tradition auseinander, die mit der Italien-Sehnsucht deutscher Künstler und Intellektueller seit dem 18. Jahrhundert korrespondiert, aber auch mit dem seit den 1960er Jahren in Mode gekommenen Italien-Tourismus der (West-)Deutschen. Er zeichnete nach strengen konzeptionellen Vorgaben nach Ansichtskarten von Rom und Umgebung (»Betrachtungen über das Gerinnen der Form – Olevano Romano / Italien«), versandte einige an Adressen in der Heimat. Am 21. Oktober 1996 startete er frühmorgens zu Fuß in Richtung Rom. Nur mit der Landkarte Latium und dem Stadtplan Rom im Gepäck marschierte er von der Olevanoer Anhöhe hinab in die Campagna und auf dem oft schmalen oder gar nicht existierenden Seitenstreifen der Landstraße immer Richtung Westen, auf den Hauptbahnhof Roms zu. In gewissen Abständen dokumentierte er seinen Weg mit der Kamera. So entstanden etwas 100 Diapositive der Straßen zwischen Olevano und Rom Termini. Er erntete verwunderte Blicke von Einheimischen und am Ende der 56 km langen Strecke offene Fersen und totale Erschöpfung. Aber 1997 entstand auch das Künstlerbuch »Eine Wanderung durch die Campagna«, das die Zeichnungen nach Postkarten, die Fotos der Wanderung und die im Tagebuch notierten Erlebnisse und Reflexionen des Olevano-Aufenthalts mit Verweisen auf die Kunstgeschichte verknüpfte.

Über weitere Früchte seiner Wanderung durch die Campagna schreibt der Künstler:

»Mit spitzem Bleistift und Papier zu Fuß durch die römische Campagna unterwegs, so möchte man sich das Leben der deutschen Künstler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorstellen. Einmal bin auch ich dort gelaufen, der Zeit entsprechend mit einem Fotoapparat in der Hand, um die in Richtung Rom sich bietenden Blicke festzuhalten. Ich fand keine idyllische Landschaft der Leere und mir stand auch nicht der Sinn nach romantischer Zeichnung. Ablaufen einer festgelegten Strecke, Dokumentation, Befriedigung einer gewissen Neugier.
15 Jahre später entstand zu dieser Tour eine Zeichnung, anlässlich der Ausstellung ›Rom sehen und sterben …‹ in der Erfurter Kunsthalle. Es war eine willkommene Gelegenheit, mich meiner römischen Wanderung von 1996 zu erinnern und den Weg, den ich damals gegangen war, zu rekonstruieren und aufzuzeichnen. Die Campagna-Linie wurde zum Vorbild für eine Serie von insgesamt neun Zeichnungen dieser Art, sie sind alle etwa 170 cm breit und zeigen die Formen der von mir gegangenen Wege.« Diese Wege hat er stets auch mit fotografischen Mitteln dokumentiert.

Eine Auswahl der mit seinen Wanderungen verbundenen Linien stehen im Zentrum der Ausstellung: Olevano Romano – Rom (1996), Rom – Cervara (2012), Cerveteri (2012), Pompeji – Herkulaneum (2015), Venedig (2017). Von drei Wanderungen werden auch die fotografischen Dokumentationen (»Wegefotos«) auf Bildschirmen präsentiert. Darüber hinaus zeigt der Künstler eine Gruppe von Aquarellen aus der Knäuel-Serie.

Seit 1996 nahm er mit dem Projekt »Variationen der einfachen Linie« Landschaften, Zeichen, Schädel und Netzstrukturen in den Blick, um sie mit grafischen Mitteln stark zu abstrahieren. Diese Zeichnungen sind reduziert auf die Begegnung weniger Linien und die Leerräume zwischen ihnen. Auch in den jüngsten Aquarellen der Knäuel-Serie geht es um das Ziehen und Vernetzen von einfachen oder doppelten Bögen, dabei kommt dem freien Fließen der Pigmente, ihrer überwachten Ablagerung im Papier und der bewussten Gestaltung malerischer Flächen kommt eine wachsende Bedeutung zu.

Ein Künstlerbuch begleitet die aktuelle Ausstellung. In Texten und Bildern, zum Teil auch Bildcollagen, zeigt sich besonders klar die Verbindung Matthias Geitels zum kunsthistorischen Erbe Friedrich Nerlys zur Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert und zum Phänomen der deutschen Reisekünstler in Italien.

Zum Künstler

Biografie

  • 1962 geboren in Jena, aufgewachsen in Rudolstadt
  • 1983-88 Elektronikstudium an der TH Ilmenau (Dipl.Ing.), Umzug nach Erfurt, Chipdesigner
  • 1993 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds Berlin
  • 1995 Stipendium Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf
  • 1996 Casa Baldi-Stipendium, Olevano Romano (Italien)
  • 1997 Arbeitsstipendium des Landes Thüringen, International Studio Program New York
  • 1999 Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds Berlin
  • 2000 Arbeitsstipendium des Kunstfonds e.V. Bonn, Studienaufenthalt in Athen
  • 2001 Reisestipendium der Golart-Stiftung München, Studienaufenthalt in Ägypten
  • 2007 Umzug nach Berlin
  • 2020-22 NEUSTART KULTUR Stipendien Kunstfonds und BildKunst

Bücher

Erfurter Trilogie (1994-96), Die Anomalie der Dinge (1997), Eine Wanderung durch die Campagna (1997), WALK – DONT WALK (1998), Das Lächeln der Forsythie (1999, mit M. Geyersbach), IOCYÁN (2000), Isistris Akbar (2002), ANONYMUS Pi – Variation der einfachen Linie (2006), bis dass das Auge übergeht (2009), Cerplec (2011), depot (2020), 360° (2021), Wandel (2022), TOUR (2024)

Einzelausstellungen (Auswahl)

  • 2024 Angermuseum Erfurt: TOUR
  • 2023 P3 Kulturhalle Ingolstadt: Knäuel (mit L. Hauser)
  • 2019 Projektraum Essen und Trinken im Museum, Berlin: MORZG
  • 2011 Lindenau-Museum Altenburg: Cerplec – Annäherung an eine Form
  • 2010 Verwaltungsgericht Weimar: bis dass das Auge übergeht
  • 2006 Museum Junge Kunst, Frankfurt/O: Strategie und Lapsus (mit M. Geyersbach)
  • 2006 Kunsthalle Erfurt: Im Doppelpack (mit M. Geyersbach)
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