Immer wieder gelingt es der berühmten Künstlerin zu überraschen. Bisher widmete sie sich in zahlreichen Serien und Langzeitstudien dem Bildnis des Menschen, nun schenkt sie in ihrer jüngsten Werkgruppe ihre ganze Aufmerksamkeit der Welt der Pflanzen und Blüten. Ihre farbenprächtigen Kompositionen zeugen vom Werden und Vergehen der Natur. Zunächst scheint sie eine gänzlich neue Richtung einzuschlagen, aber dann offenbart sich das verbindende Thema der Veränderung: Nichts bleibt, wie es ist.
Der Kunstverein Konstanz zeigt mit Metamorphosen die jüngste Werkgruppe der international bekannten Künstlerin Herlinde Koelbl. Erstmals zeigt sie keine Menschen, sondern richtet die Kamera auf das Entstehen, Werden und Vergehen der Natur. Rund 60 ausgewählte Arbeiten veranschaulichen die grenzenlose Vielfalt floraler Formen und die überwältigende Farbigkeit von Pflanzen, Blüten und Blättern, unterstrichen durch einen Wechsel von intimen kleinen Abbildungen mit großformatigen Tableaus.
Einige Verse aus Ovids berühmten »Metamorphosen« sind im Ausstellungskatalog von Herlinde Koelbl zitiert. Die Geschichten des Epikers von Verwandlungen aus der Mythologie sind eine Inspirationsquelle für ihr neues Sujet. Ihr umfangreiches, vielfach ausgezeichnetes Oeuvre erzählt seit Beginn von Vergänglichkeit und Wandel. In ihren Portraits von Künstlern, Wissenschaftlern und vor allem Politikern untersucht sie, wie Zeit und Lebensumstände sich in Gesichtszügen, Haltungen und Staturen einschreiben. Besonders deutlich spiegelt sich dies in ihrem einzigartigen Portraitzyklus, der Angela Merkel von ihrer Zeit als junge Familienministerin bis zum Ende ihrer langen Kanzlerschaft begleitet.
Koelbls neue, poetische Naturbetrachtungen widmen sich den Pflanzen im Moment ihres Vergehens. Die dahinschwindende Fülle lässt die Blüten und Blätter erstarren, morsch, brüchig und schlaff werden. Sie haben ihren Zenit überschritten, doch Koelbls Bilder zeigen, dass die Natur auch in ihrem unausweichlichen Übergang eine ganz eigene Opulenz aufbietet und erstaunliche Formen und spektakuläre Farben mit betörenden Rottönen hervorzaubert.
Die Motive für die Metamorphosen-Serie fand die Künstlerin in heimischen Gefilden wie in vielen Ländern der Welt. Wenn sie unterwegs war, um Ausstellungen zu eröffnen oder Reportagen zu erstellen, widmete sie sich seit etwa 2015 auch der Flora. Es sind intensive Beobachtungen, viele haben die Präzision einer Inszenierung und gleichen einem Gemälde. Die Bildausschnitte sind oft eng gezogen. Dadurch verfremdet und verrätselt Koelbl die Blüten, Blätter und Früchte. Die Pflanzen wirken bizarr und abstrakt. Die Assoziationen reichen von winterlichen Ackerlandschaften, Stadtansichten, irritierenden Rosenknospen, Schmetterlingsflügeln, feinfädig durchzogenem Gewebe bis hin zu weiblichen Körperformen. Um der Fantasie freien Lauf zu lassen, verzichtet die Künstlerin auf Bildtitel.
Koelbl schließt mit dieser Arbeit das Kapitel Mensch nicht ab, sondern erweitert und reflektiert es im übertragenen Sinne auf den Wandel in der Natur. Der Mensch ist wie jede Spezies Teil der Natur und Teil des ewigen Kreislaufs. Zwei Fotografien verweisen auf den Aspekt von Anfang und Ende. Zu sehen ist das Bild eines neugeborenen Säuglings und das Closeup einer menschlichen Haut, wobei offenbleibt, ob die Falten und Runzeln von einem ganz jungen oder ganz alten Menschen herrühren.
Herlinde Koelbl hat Modedesign studiert. Ihre Karriere als Fotografin begann 1976, der erste Erfolg stellte sich bereits 1980 mit der Dokumentation »Das deutsche Wohnzimmer« ein. Zu ihren Schlüsselwerken zählen »Jüdische Portraits« von 1989, in denen sie Überlebende der Shoah interviewte und porträtierte, sowie die Serie »Haare“ von 2007, die 2012 im Kunstverein Konstanz gezeigt wurde. Auch als Filmemacherin ist sie in Erscheinung getreten, darunter sehenswerte Projekte wie »Spuren der Macht«, eine Langzeitstudie über die Veränderung des Menschen durch Macht, und »Rausch und Ruhm“ über den Drogenentzug von Benjamin von Stuckrad-Barre.
Herlinde Koelbl zählt zu den einflussreichsten Fotokünstlern Deutschlands. Mit Metamorphosen ist der 84-Jährigen erneut ein anregendes, sehenswertes, ja betörendes Werk gelungen. Man darf gespannt sein, wo ihr Blick das nächste Mal hängen bleibt.