In der ersten retrospektiven Einzelausstellung der Berliner Künstlerin Sophie Reinhold in der Halle für Kunst Lüneburg versammeln sich malerische und skulpturale Werke der letzten 15 Jahre – vom Abschluss ihres Studiums an der Kunsthochschule Weißensee über Reinholds erste Malerei mit Marmormehl bis hin zu neu produzierten Arbeiten.
Bereits die frühen und hier erstmals gezeigten Objektarbeiten Reinholds offenbaren, was die Künstlerin seither in ihrem Schaffen umtreibt: Die Tatsache, dass das Herstellen von Oberflächen im Grunde ein dreidimensionaler Prozess ist und zum Vortäuschen falscher Tatsachen verführt. So täuscht etwa die transparente Oberfläche eines leeren Objet-trouvé-Bilderrahmens mit Passepartout, den Reinhold mit Folie umspannte und anschließend mit ausuferndem Farbgestus bemalte, den zentralperspektivischen Blick von Betrachter:innen (Ohne Titel (you saved me), 2010) geradezu. Auch eine frei stehende Skulptur trickst uns in der Mitte des Ausstellungsraumes aus, die wie eine historische Schultafel aus dem 19. Jahrhundert mit marmoriert verputzter Oberfläche daherkommt. Ursprünglich eine Staffelei, wie man sie als junge angehende Malerin aus den heiligen Kaderschmieden des klassischen Kunstkanons kennt, schraubte Reinhold sie auseinander, montierte sie in neuer Form zusammen, um der Malerei als Institution mit ironischem Eigensinn zu begegnen.
Dass die Flucht ins Autoritäre auch vor der Furcht vor der Freiheit schützen kann, wie es einst Erich Fromm beschrieb, verdeutlicht ein jüngeres Gemälde aus Bitumen und Marmormehl, das uns wie ein Hinweisschild Gehorsam abverlangt (Paragraph (SS) 2022). Hier verspricht die konstruierte autoritäre Bildaussage eines überdimensionierten doppelten »S« als ordnendes »Zeichen des Abschnitts«, als Quelle des Handels von Gesetzes- und Staatsdiener:innen, strotzende demokratische Rechtsstaatlichkeit, während es hin und wieder droht, in eine totalitäre Insigne umzuschlagen. Ähnlich wie Reinholds frühe Skulpturen stellen diese mit Bitumen und Marmormehl bearbeiteten und zu ihren Markenzeichen gewordenen Jute-Leinwände die Beständigkeit einer Wahrnehmung – das Prinzip der Mimesis als Instrument »volksnaher« Populismen auf die Probe – und entblößen dabei die ein oder andere schöne Muse des erkenntnisorientierten Denkens (untitled (November 23), 2023/24). Zunächst mit mehreren Schichten Marmorpulver und Pigmenten mit der Mauerkelle sowie den Händen der Künstlerin bearbeitet, werden Oberflächen hier bildhauerisch auf-, abgetragen und schließlich von anderer Hand (danke Kurt Reinhold und Johan Meister) mit Schleifpapier poliert. Was bleibt, sind die subjektiven Spuren der Künstlerin: Risse, Pinselspuren, Fauxpas, Kritzeleien und Chiffren, die sich in die Hautschichten der Malerei wie Altersnarben eingegraben haben (Träum Weiter III, 2023).
Wie eine Narbe als bleibende Reminiszenz schreibt sich auch die hier immer wiederkehrende Form einer Spirale in die Oberflächen Reinholds ein. Ein Spiralen-Gemälde auf Rollen imitiert (und persifliert) beispielsweise das Klischee von einer »Malerei im Raum«, die sich potenziell von A nach B bewegen lässt (Spirale II (Malerei im Raum), 2015). Im Stile eines Graffitis, wie man schon die in Stein geritzten Inschriften der Antike nannte, lässt Reinhold den einstigen illegalen, ästhetischen Vandalismus gegen den massentauglichen, erlesenen Geschmack in ihrer Malerei unterhalb der »normalen« Blickhöhe aufkeimen. Dabei sind Spiralform sowie Signatur der Künstlerin weder in die Oberfläche des Bildes eingeritzt noch aufgetragen, sondern das Ergebnis von weggesprühter Farbe durch Luftdruck. Hier wird klar: Für Reinhold war und ist das Atelier immer ein Ort, wo Kunst eher ein primitives Bedürfnis nach Aktion statt Erzeugnis ist, an dem banales Tun und gescheiterte Experimente, ja die bisweilen schambehaftete (aber durchaus humorige) Suche nach Kunst, Teil von Kunst selbst werden kann.
Was an einer Wand den Anschein von einer behelfsmäßig zusammengeschusterten Holzleiter erweckt, die ins Ungewisse führt, ist im Grunde ein Rahmen für einen von Stahlstangen durchbohrten Betonbildkörper unmittelbar daneben. Dieser performt im White Cube das Ideal eines modernistischen Bildes und versprüht dabei ganz beiläufig ein bisschen ruinöse Plattenbauromantik (untitled (could have been poetic), 2012). Reinhold enthierarchisiert und entmaterialisiert hier das sonst so in Abhängigkeit stehende repräsentative Ensemble vom Bild und seinem tragenden Rahmen. Statt an der Wand zu hängen und »getragen« zu werden, steht es auf eigenen Beinen:
»Identität ist immer ein offenes, komplexes und unfertiges Spiel – immer im Bau befindlich, »under construction« (in Europa genauso wie im Nahen Osten, in Afrika oder der Karibik). Auf dem Weg in die Zukunft macht sie immer einen symbolischen Umweg über die Vergangenheit.« (Stuart Hall)
Die meisten dieser frühen Arbeiten Reinholds verinnerlichen die unaufhörliche künstlerische Suche entgegen allen dogmatischen »Ismen« und Bewegungen nach vorne, strikt dagegen oder darüber hinaus. Vielmehr scheint die Suche Reinholds eher »off-modern« (Svetlana Boym) abzuschweifen, indem sie den verpassten Gelegenheiten und nicht eingeschlagenen Wegen wie einer Spirale folgt, improvisiert, vermutet und anstelle faktische Realitäten zu verzerren – ihre Ruinen, Echos, Rückstände und Schatten ergründet. Reinholds »Off« handelt vom Leben mit Differenz, ein Leben als Baustelle, das womöglich niemals ganz in der westlichen Moderne ankommt (kein unbeliebter Vorwurf gegen die »Anderen« und den Ossi). Das ist ein »Off«, das von den unregelmäßigen, ja »irregulären« Bewegungen der Geschichte, ihren post/faschistischen, post/sozialistischen und post/kolonialen Hinterlassenschaften erzählt, die im Einheitsmärchen von der Rückkehr zur »deutschen Normalität« und Tradition der Dichter und Denker aus den dominanten Fassungen heraus gekürzt wurden – inklusive ihrer Modernisierungslooser:innen. Fragt sich, wer will schon in der politischen Moderne ankommen, die weniger ein Motor der Toleranz als der Eroberung ist (Mahmood Mamdani)?
Letztendlich ist all den hier versammelten Werken Reinholds nicht nur die Frage gemeinsam: Was ist ein Bild, sondern vor allem – wie liest man ein Bild jenseits eines Schauens als Besitznahme? »M-o-n-e-y« lesen sich anthropomorphe Buchstaben auf einer Malerei auf Jute (MONEY III, 2021). Zwischen Typografie und illustrativer Menschendarstellung, wie man sie etwa von Peter Flötner aus der Blütezeit der Renaissance kennt, metamorphieren sie an der Wand zu schier komplexen Halb-Wahrheiten: »Das Kapital ist schlauer, Geld ist die Mauer«. Reinholds Malerei entgegnet derweil auf der anderen Seite des Ausstellungsraum: Wer will schon dreckiges Silber erben (2020). Reinhold hebelt unter dem dynamischen Blickwinkel der »Dysposition« (Didi-Huberman) in ihren Arbeiten höhere Ordnungen des Erscheinens, die propagandistische Wirkmacht von Bildern, ihre ikonographischen Binsenwahrheiten aus. Was uns Betrachter:innen anzublicken bleibt, sind hier keine bildlichen Repräsentationen warenfetischisierter Oberflächen, sondern Bidlwerdungsprozesse, ja die Performance und Phantomwerdung eines Bildes, das in all seinen wahrnehmbaren Formen, Schichten, Erzählungen, Zeitlichkeiten zurückblickt. Buchstäblich zurück blickt das zerfließende Emblem eines Teufelchens in Reinholds allerster Malerei mit Marmormehl (portrait of an unknown, 2011) und fordert ein: ein anderes Schauen – ein entgrenztes Schauen, welches jenseits aller Überrepresentation, jenseits von Fremdzuschreibungen, jenseits von projizierten Feindbildern, ja jenseits der Blindheit für die dunkle Seite der Aufklärung, ihre Schamteile, bereitwillig ist, irgendwann das Unterrepräsentierte im Bild zu erkennen. Bewusste Vernachlässigung ist schließlich auch keine Lösung.
Die Ausstellung ist kuratiert von Elisa R. Linn.
Sophie Reinhold wurde 1981 in Ost-Berlin geboren und studierte bei Antje Majewski an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und bei Amelie von Wulffen an der Akademie der Bildenden Künste Wien sowie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Zu den jüngsten Einzel- und Duo-Ausstellungen gehören I Started A Joke, PHILIPPZOLLINGER (Zürich, 2024); Träum Weiter, Galerie Nordenhake (Berlin, 2023); Aporia, Galerie Fitzpatrick (Paris, 2022); Menace, Sophie Tappeiner (Wien, 2021); Das kann das Leben kosten, CFA (Berlin, 2020); Kein Witz, No Joke, Kunstverein Reutlingen (2019); The Ballad of the Lost Hops, Sundogs (Paris, 2019); Dear Hannes, Schiefe Zähne (Berlin, 2018). Im Jahr 2012 war Reinhold Preisträgerin und Stipendatin der Villa Romana in Florenz.