Er ist die erste Social-Media-Maschine des 21. Jahrhunderts: der Container der Reality-Show Big Brother aus dem Jahr 1999. Eine Handvoll unbekannter Menschen ohne besondere Fähigkeiten zog darin für hundert Tage zusammen, um sich rund um die Uhr von der Bevölkerung bei ihren alltäglichen Verrichtungen beobachten zu lassen: Zähneputzen, Kartenspielen, Schlafen, Duschen, Smalltalk, Essen, Sex. Alle Tätigkeiten der Bewohner:innen wurden permanent von Kameras gefilmt und ins Internet übertragen. Ihr einziger Kanal zur Welt war eine Videokamera, über die sie einmal täglich ihre privatesten Gedanken und Gefühle mit der Öffentlichkeit teilten. Doch es ging in der Show nicht nur um das Ausstellen von Intimität. Sie war zugleich ein Wettbewerb, bei dem das Fernsehpublikum die einzelnen Kandidaten nach und nach aus dem Container wählte. Ihr Alltag wurde auf allen Ebenen zu einer Frage der Performance.

Als Big Brother 1999 zum ersten Mal in den Niederlanden und später – bis zum heutigen Tag – in über 63 Ländern gezeigt wird, ist die Show sofort Gegenstand von Debatten. Das Konzept mit seiner Kombination aus Alltag, freiwilliger Selbstbeobachtung, inszenierter Authentizität und Wettbewerb ist eine Provokation. Manche sprechen von einer längst fälligen Demokratisierung der Unterhaltungsbranche, für andere ist die Show mit ihrer Umdeutung des allmächtigen «Grossen Bruders» aus George Orwells Roman 1984 eine Grenzüberschreitung. Es ist eine Vorwegnahme der Debatten der folgenden zwei Dekaden.

Der eigentliche Hauptdarsteller der Show ist keiner der Kandidat:innen, sondern der Raum, in dem sie aufeinander treffen: der Container. Er ist demokratische Utopie, Dystopie und Konzeptkunst in einem – ein Selbst-Überwachungsapparat, ein sich permanent selbst aktualisierendes Ready-made, eine Realitätsmaschine. Mit ihm findet ein Paradigmenwechsel statt. Die vierte Wand zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit ist endgültig durchbrochen, von nun an würden wir alle Performer:innen sein.

Der Basler Theaterregisseur Boris Nikitin hat für das zwanzigste Jubiläum der ersten Staffel eine Replika des Containers nachbauen lassen. Sie war Bestandteil der Inszenierung Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder am Staatstheater Nürnberg. Nun wird die Replika für sechs Wochen im Museum Tinguely zu sehen sein. Für die Ausstellung The Last Reality Show haben Nikitin und sein Team das Objekt neu bearbeitet. Die Dimensionen sind leicht verschoben, ein Raum fehlt, der Container ist nicht aus echtem Metall, sondern aus weiß lackiertem Holz. Es ist die Imitation eines Gebäudes, das selbst bereits ein Simulakrum war und mit dem das Zeitalter der digitalen Sichtbarkeit eingeläutet wurde.

Boris Nikitin gilt als eine der wichtigen Stimmen des zeitgenössischen Theaters. Er ist Regisseur, Autor, konzipiert Bühnenbilder, realisiert Videoarbeiten, kuratiert Festivals, Symposien und Happenings. Sein künstlerischer Schwerpunkt ist seit vielen Jahren die Auseinandersetzung mit dem Dokumentarischen und der Propaganda. Die Frage nach der Manipulierbarkeit von Wahrheitsbehauptungen ist kontinuierliches Merkmal all seiner Arbeiten. Lange bevor der Begriff Fake News zum zwiespältig geflügelten Wort wird, stellt er die Frage nach dem Realen. Stücke wie F for Fake nach Orson Welles (2008), Imitation of Life (2009), How to win friends and influence people (2013), Sei nicht du selbst (2013) oder Martin Luther Propagandastück (2016) sind nicht nur von der Presse gefeiert, sondern ziehen einen doppelten Boden in ein zeitgenössisches Performance-Theater, das noch von der Suche nach echten Körpern, realen Handlungen und einer Sehnsucht nach Authentizität geprägt ist. Die Frage nach dem Echten und seinen Doubles steht auch im Mittelpunkt von Nikitins Happenings, wie das Festival It’s The Real Thing (2013-2019), die Gesprächsreihe Propagandagespräche 1-8 (2018) oder die Schweizer Propagandakonferenz (2019). Bereits 2009 schreibt die taz: »Bei Nikitin wird die Ästhetik der Laien, Experten, Komplizen noch einmal weitergedacht. Es gibt kaum eine Regiegruppe, die den Status dessen, wovon sie erzählen und berichten lässt – den Status des Dokuments also – so sehr in Frage stellt, wie Nikitin.« Und der Tagesanzeiger 2016: »Der Basler Regisseur treibt das Genre des dokumentarischen Theaters an seine Grenzen.«

Mit The Last Reality Show denkt der Basler Künstler seine Themen weiter und verknüpft sie neu. Dabei verbindet er die Frage der Illusionserzeugung mit einem anderen Thema, dem er sich in den vergangenen Jahren besonders gewidmet hat: der Verwundbarkeit, die entsteht, wenn Menschen sich exponieren.

Der Container ist eine Art Quintessenz seiner bisherigen Arbeiten. Zugleich ist er eine Zeitkapsel, die das Jahr 1999 mit dem Heute verbindet. Die Welt hat sich in den zwei Jahrzehnten umgestaltet, der Container ist zu einem Museumsobjekt geworden. Die Überwachungskameras sind alt, die Möbel unzeitgemäß, die Fragen nach der Realität omnipräsent. An einer Wand hängt ein Foto der Twin Towers, die damals noch standen, an einer anderen ein United Colors of Benetton-Plakat von Oliviero Toscani. Die Betten im Schlafzimmer sind leer, das Badezimmer nur noch ein Fragment. Die Bewohner:innen haben den Container längst verlassen. Die Museumsbesucher:innen betreten einen Erinnerungsraum.

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