Das Kunstmuseum Appenzell, gestiftet von Heinrich Gebert, wurde 1998 eröffnet. Entworfen wurde es von den renommierten Architekten Annette Gigon und Mike Guyer, die auch für den Neubau des Kirchner Museum Davos und die Erweiterungsbauten des Kunstmuseums Winterthur sowie der Sammlung Oskar Reinhart, am Römerholz, Winterthur, verantwortlich sind.
Das Museum war ursprünglich dem Werk der beiden Appenzeller Vertreter der modernen Kunst, Carl August Liner und Carl Walter Liner gewidmet. Der Bau gehörte somit zum Typus der monografischen Museen. Da aber von Anfang an feststand, dass das Museum vornehmlich der Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart gewidmet sein sollte, sind die Ausstellungsräume nicht spezifisch für die Werke der beiden regionalen Künstler dimensioniert und gestaltet. Sie sind stattdessen so beschaffen, dass sie sich für wechselnde Ausstellungen sowohl mit klassischer moderner wie auch mit zeitgenössischer Kunst eignen.
Die Raumfolge führt über die Eingangshalle im Süden durch die im Volumen abnehmenden Galerieräume zu einem Lese- und einem Medienraum im Norden. Die Ausstellungssäle sind klar definierte Räume, welche die Kunstwerke weder überhöhen noch konkurrenzieren wollen. Sie sind möglichst zurückhaltend im Detail, weisen helle Wände und einen Fußboden aus gegossenem Beton auf und sind jeweils von oben über ein befenstertes Giebeldach, einem »Shed« gleich, mit Tageslicht erhellt.
Die Raumflächen sind verhältnismässig klein gehalten, um für die einzelnen Werke ein möglichst konzentriertes Umfeld zu schaffen. Die gesamte Ausstellungsfläche gliedert sich in zehn Räume zwischen 30 bis 50 Quadratmeter. Die verschiedenen Raumgrössen werden durch eine assymetrisch angeordnete Mittelwand erzeugt sowie durch die sukzessive Verkleinerung der Raumachsen von Süden nach Norden. Durch das Versetzen oder das Hintereinanderlegen der Türöffnungen entsteht eine wechselweise mäandrierende und geradlinige Wegführung durch das Museum. Zwei grosse Seitenfenster erlauben den Besuchern den Ausblick ins Freie wie auch die Orientierung im Gebäude. Der durch ein Panoramafenster erhellte Leseraum und der Raum für Dia- und Videovorführungen befinden sich in der Mitte des Rundgangs. Den architektonischen Auftakt zum Museumsbesuch bildet die grosse Eingangshalle mit dem Empfangs- und Verkaufskorpus, die durch ein die ganze Raumbreite einnehmendes Fenster den Blick auf die Landschaft freigibt. Als erster und grösster Raum bildet das zusätzlich durch ein Oblicht erhellte Entrée den Ort für Besammlungen, Ansprachen und Vorträge.
Das Belichtungssystem der Ausstellungsräume mit unterschiedlich hohen und breiten Giebeln ergibt die typische »Zick-Zack-Form« des Bauvolumens, die mit den aneinander stossenden Satteldächern der Appenzeller Ortschaften verwandt ist und auch an die regelmässigen Shed-Dachformen von Gewerbe- und Agrarbauten denken lässt. Die Dachflächen sind mit sandgestrahlten Chromstahlblechen verkleidet, um das Licht, das in die Ausstellungsräume zurückgeworfen wird, im Inneren möglichst richtungslos und farblich unverfälscht zu haben. Die Fassadenflächen bestehen aus dem selben Material. Die geschuppte Verlegeart der Bleche und auch die matt grau schimmernde Farbe des Chromstahls erinnern entfernt an die von der Witterung silbern ergrauten Schindelfassaden und vormaligen Schindeldächer der traditionellen Appenzeller Bauten. Gleich materialisiert, verbinden sich die Fassaden und unterschiedlich geneigten Dachflächen zu einem einprägsamen, kleinen »Volumengebirge« – vor dem Hintergrund des Alpsteins.
Geschichte
Das Kunstmuseum Appenzell ist seit seiner Eröffnung (als Museum Liner Appenzell) im September 1998 Bestandteil der „Grand Tour«, der Bildungsreisen der Architekten und Architektinnen, sowohl der noch studierenden wie auch der bereits praktizierenden. Diese Besucher:innen, man könnte sie auch Forscher:innen und Sammler:innen nennen, machen noch heute, 19 Jahre später, einen bedeutenden Anteil der jährlichen Gesamtzahl von ungefähr zwanzigtausend Museumsbesucher:innen aus. Das ist nicht wenig, für ein kleines, relativ abgelegenes Museum möglicherweise gar existenzsichernd, da die Architekturinteressierten als Multiplikator wirken, die den Ruf eines Hauses erweitern können.
Bemerkenswert ist auf jeden Fall die Intensität, die Wissbegier, vielleicht auch die Sorgfalt, mit welcher sich jener Besuchertyp mit der Gesamtheit und den Details des Gebäudes »Kunstmuseum Appenzell« beschäftigt. Es macht Freude, die fotografierenden, zeichnenden, schreibenden Besucher:innen zu beobachten, die niederknien, um die Fussbodenmaterialien nachsichtig abzutasten, die sich nach oben recken, um beispielsweise die Metallprofile der Fensterlaibungen genau zu sehen. Überhaupt, die Architekturliebhaber:innen versuchen offensichtlich, das Gebäude in seiner Struktur, in seiner Machart und in seiner Oberflächentextur zu »begreifen«.
Für Annette Gigon und Mike Guyer bedeutete das Bauprojekt »Museum Liner« die vierte Möglichkeit, ihre Vision eines der Kunstbetrachtung angemessenen Raumes zu verwirklichen. Nach dem Kirchner Museum Davos (1992), der Erweiterung des Kunstmuseums Winterthur (1995), der Renovation und des Anbaus der Sammlung Oskar Reinhart Winterthur (1998) konnten und mussten die kongenialen Lösungen, welche das Büro Gigon & Guyer für die drei »Vorgänger« gefunden hatten, neu gedacht werden, um in dem spezifischen Appenzeller Kontext wiederum zur Wirkung zu kommen.
Von Vorteil, im Sinne einer grösstmöglichen Gestaltungsfreiheit, war sicher, dass der Bau ein Direktauftrag ohne vorherigen Wettbewerb war. Der Stifter des Museums, der Unternehmer Heinrich Gebert, mit Carl Walter Liner durch Heirat verwandt, war so begeistert von der klaren und reinen Architektur des kristallinen Kirchner Museums Davos, dass er in Absprache mit dem Stiftungsrat 1996 dem Architekturbüro Gigon & Guyer den Entwurf und dann die Realisation des Museums anvertraute. Wie schon beim Kirchner Museum Davos, schufen die Architekten ein Ausstellungs- und Sammlungsgebäude, das multifunktional bespielt werden kann. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung des verhältnismässig frei liegenden Baugrundstücks – sowohl für den architektonischen Entwurf wie auch für die Akzeptanz des Hauses im Kanton Appenzell Innerrhoden. Das vom Appenzeller Frauenkloster Sta. Maria der Engel der Stiftung Liner zur Verfügung gestellte, längsrechteckige Grundstück liegt in der Nähe des Appenzeller Bahnhofs, allerdings nicht auf der eigentlichen Dorfseite, sondern zur ländlichen, unbebauten Seite hingewandt. Das Museum Liner ist somit an der Schnittstelle zwischen touristischem »Trubel« und alltäglicher Ruhe, zwischen städtischer Infrastruktur und Brachland angesiedelt – in gewisser Weise liegt das Museum auf einer Insel. Es kann von auswärtigen Besuchern vom Bahnhof aus zwar gesehen und leicht erreicht werden, optisch gehört das Museum dennoch nicht zum historischen, zum gewachsenen Ensemble des Dorfkerns.
Ausgehend dem Terrain, auf dem gebaut werden konnte, dem Ort, in dem gebaut werden sollte, der Landschaft, in dem das Gebäude stehen sollte, den Inhalten, denen das Bauwerk ein Zuhause geben sollte, erfanden die Architekten einen fast perfekten Ort. Einen Arbeitsort, der inzwischen nicht nur zu einem der Wahrzeichen des Ortes Appenzell, sondern zu einem Monument sowohl der Architekturhistorie wie auch ganz allgemein der Besinnung geworden ist. In der Architektur ist beides aufgehoben: äußere Repräsentation – in einem zurückhaltenden Sinne – und innere Konzentration – in einem zwanglosen Sinne.